In seinem Buch „Salon Psychology“ stellte Lew Losoncy, Psychologe und Mitbegründer der Haarpflegemarke Matrix, die These auf, dass ein Großteil der Menschen entscheidende Lebensfragen erst mit dem Haarstylisten des Vertrauens bespricht. Und laut einer Befragung unter US-Friseuren, die im Journal of Applied Gerontology erschien, sehen Über-60-Jährige ihren Coiffeur sogar als nahestehenden Menschen.
Beobachtungen, die auch Strassl macht: „Ich mache diesen Job jetzt seit 35 Jahren und begleite viele Menschen seit sehr langer Zeit. Da kommen viele Themen zur Sprache, während jemand bei mir im Stuhl sitzt.“
Doch warum ausgerechnet bei jemandem, den man zwar regelmäßig sieht, aber nicht wirklich gut kennt? „Der Friseursalon ist ein vom Alltag losgelöster Bereich“, weiß der Profi. „Wir gehören weder zur Familie oder zum Freundeskreis, noch sind wir Teil des beruflichen Umfelds. Nirgendwo involviert zu sein, bedeutet, dass sie uns alles erzählen können. Was im Salon gesagt wird, bleibt schließlich auch dort.“ Ein weiterer Faktor für die Gesprächigkeit: „Viele empfinden es als Luxus, sich ein oder zwei Stunden nur um sich selbst kümmern zu können. Da sprudeln die Emotionen schneller als bei einem Gespräch zwischen Tür und Angel“, weiß Strassl.
Wie schnell sie vom reinen Dienstleister auch zum Seelentröster wird, das hänge jedoch stark von den Geschlechtern ab. „Männer sind deutlich reservierter. Sie verraten erst mehr über ihre Probleme, wenn sie dich besser kennen.“ Das Ergebnis am Kopf muss nach einem guten Gespräch freilich auch stimmen.
Selbstdarstellung
Ihren hohen Stellenwert in der Gesellschaft genießen Haare bereits seit Jahrtausenden. „Schon im Altertum waren Haare als Mittel zur Selbstdarstellung äußerst wichtig“, weiß Christopher Schlembach, Soziologe an der Uni Wien. Auch wenn die Looks im Laufe der Zeit immer variantenreicher wurden: Wie das Haar gefärbt und geschnitten wird, sei auch heute ein wichtiges Symbol für Zugehörigkeit.
Aufgrund der Coronakrise erfülle die Berufsgruppe der Coiffeure derzeit eine noch wichtigere Rolle als sonst. „Jeder von uns wurde in den vergangenen Wochen vom Individuum zum potenziellen Virenträger“, erklärt Schlembach. „Der Friseurbesuch ist eine wichtige Gelegenheit, um seine Identität wieder zurückzubekommen.“ Die Interaktion zwischen Stylist und Kunde sei für Letzteren Teil eines nicht zu unterschätzenden Transformationsvorgangs auf dem Weg zurück in die Gesellschaft.
Dass es bei diesem Beruf bei Weitem nicht nur um das Gespür für Schnitte und Haarfarben geht, wird bei Katharina Strassl bereits Lehrlingen vermittelt. „Jeder Friseur hat zwei Ohren und einen Mund. Und ich sage immer, dass wir alle doppelt so gut zuhören wie reden sollten“, sagt die Wienerin. „Jene, die glauben, sie müssen nur Haare schneiden können, werden nie sehr treue Kunden haben. Man muss sich auf die Menschen einlassen können.“
An einen besonders emotionalen Moment denkt die Salon-Besitzerin heute noch gerne zurück: „Ich habe bei einer Kundin an der Haarstruktur erkannt, dass sie schwanger ist. Zuerst hat sie meine Frage verneint, zwei Wochen später kam dann der Anruf mit den tollen Neuigkeiten.“ Das mache ihren Beruf auch aus, sagt Katharina Strassl. „Wir sind ganz nah an der Seele dran.“
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