Zwei getötete Kinder in Tirol: Was tun gegen Gewalt in der Familie?

Zwei getötete Kinder in Tirol: Was tun gegen Gewalt in der Familie?
Nicht wegschauen, wenn es in einer Familie kriselt, fordern zwei Expertinnen von der Front - eine Kriminalistin und eine Psychologin.

Lautstarker Streit in der Wohnung, Schreie einer Frau, Weinen von Kindern, Klirren von Gegenständen. Nebenan Nachbarn, die nicht wissen, wie sie sich richtig verhalten sollen. „Die Polizei wird bei solchen Konflikten meist von der betroffenen Frau gerufen, manchmal auch von den Nachbarn und sogar von den Kindern“, erklärt die Leiterin des Landeskriminalamts Tirol, Katja Tersch. Erst gestern gab es wieder ein Familiendrama: Ein Tiroler Vater hat gestanden, seine beiden kleinen Töchter getötet zu haben (siehe unten).

Wie unterscheidet man als Nachbar so eine Eskalation von normalem Krach? „Man kann durchaus erkennen, ob etwas Kinderlärm ist oder Schreie aus Angst und um Hilfe. Selbst wenn man die Sprache nicht versteht, erkennt man die Spannung“, weiß die erfahrene Kriminalistin.

Was geschieht, wenn man die Polizei ruft? Tersch: „Die Beamten machen sich ein Bild der Lage. Sie klären, was vorgefallen ist, und bemühen sich, die Personen getrennt von einander zu befragen, damit sie ein klareres Bild bekommen. Wenn sie einen Bedarf sehen, können sie ein Betretungsverbot und ein Annäherungsverbot aussprechen. Dann darf der Gefährder – oder die Gefährderin – für zwei Wochen nicht in die Wohnung. Und auch nicht mehr in die Nähe der Person. Das Annäherungsverbot ist wie eine Wolke um das Opfer. Das ist eine neue Regelung seit diesem Jahr.“

„Gewalt nicht hinnehmen“

Beate Wimmer-Puchinger, die Präsidentin des Verbandes Österreichischer PsychologenInnen BÖP, sieht Gewalt in der Familie als Armutszeugnis für die moderne Gesellschaft: „Wir brauchen eine Allianz gegen Gewalt, damit solche Situationen gar nicht entstehen. Alle müssen gemeinsam klarmachen, dass wir Gewalt gegen Frauen und in der Familie nicht hinnehmen: Bildung, Gesundheit, Wirtschaft, Justiz, Politik und Medien. Aber auch Nachbarn und Freunde.“

Die Pandemie verstärkt die üblichen Probleme, so die frühere Frauengesundheitsbeauftragte der Stadt Wien: „Gewalt in der Familie hat mit Machtausübung gegen Schwächere zu tun. Wenn jemand sich ohnmächtig oder überfordert fühlt, weil er etwa unter Arbeitslosigkeit oder Existenzängsten leidet und das Gefühl hat, versagt zu haben, lässt er das an jemandem aus. Oft ist auch Alkohol im Spiel. Jetzt kommt dazu, dass man viel Zeit zu Hause verbringt.“

Im ersten Lockdown verzeichnete die Polizei eine etwas höhere Zahl an Wegweisungen, sagt Tersch, „aber die Kontakte bei Beratungsstellen sind noch aussagekräftiger“. Die Anrufe stiegen im ersten Lockdown um 30 Prozent, viele hatten mit familiären Problemen zu tun, meldete etwa die Jugend-Hotline Rat auf Draht (Nummer: 147) .

Noch immer sei Gewalt in der Familie ein Tabu-Thema, „aber es wird zunehmend besser“. Wimmer-Puchinger lobt daher die Aktion, Broschüren über Gewalt in der Familie mit Notrufnummern unauffällig im Supermarkt zu verteilen, etwa die „Frauen-Helpline gegen Gewalt“ unter 0800 222 555. Im Frühjahr wurden Hotline-Nummern bei einer Supermarkt-Kette sogar auf die Rechnung gedruckt .

Hier klicken: Die wichtigsten Beratungsstellen

Es gibt viele Stufen bei Interventionsmöglichkeiten – vom kurzen Gespräch am Gang bis zum Einschreiten der Polizei. Bevor eine Krise eskaliert, müssten alle auf die leisen Signale achten. Wenn eine Frau in Räumen eine Sonnenbrille trägt oder erkennbare Verletzungen hat, Mutter oder Kinder besonders schüchtern wirken oder „wenn eine Frau das Haus kaum noch verlässt. Das ist derzeit schwieriger zu erkennen“, räumt Tersch ein.

Die Polizistin betont die Bedeutung des Umfeldes: „Jede fünfte Frau in Österreich ist von Gewalt betroffen, aber wenn man Leute fragt, fällt ihnen erst mal niemand in ihrem Umfeld ein. Wenn sie nachdenken, dann schon.“ Wer Anzeichen möglicher Gewalt erkennt, sollte nicht darüber hinwegsehen. Tersch: „Man kann mit der Frau ins Gespräch kommen und ihr signalisieren, dass sie mit einem reden kann. Damit sie weiß, dass jemand ihr helfen könnte. Wichtig ist, dass sie entscheidet, wann sie was sagen möchte.“

Beide Expertinnen sehen das Tabu noch mehr bei den Verursachern. Wimmer-Puchinger: „Die Täter – meist sind es Männer – müssen ein Unrechtsbewusstsein bekommen, das haben viele noch nicht. Deswegen wünsche ich mir, dass auch mal ein Freund, der etwas mitbekommt, zu einem anderen sagt: ‚Respektlosigkeit gegenüber einer Frau oder Schlagen geht gar nicht.‘“

Tersch ortet Handlungsbedarf bei der „opferorientierten Täterarbeit“: „Man müsste schon früher institutionalisiert ansetzen. Dass Männer Beratungsangebote bekommen, bevor die Situation eskaliert. Bei manchen bewirkt das Betretungsverbot, dass sie ihr Verhalten einsehen. Aber oft reicht das nicht. Bei den Männern muss man das Tabu brechen, dass sie über ihre Aggressionen reden.“ Psychologin Wimmer-Puchinger: „Verordnete Therapie ist sehr schwierig. Es sollten auf Tätergewalt spezialisierte Psychologen zum Einsatz kommen.“

Ab 1. Juli ist per Gesetz eine verpflichtende Beratung (sechs Stunden) für Männer vorgesehen, die gewalttätig geworden sind. In jedem Bundesland wird eine Beratungsstelle für Gewaltprävention eingerichtet. Das Innenministerium investiert in den nächsten vier Jahren 10,6 Millionen Euro in diesen Bereich. Seit Frühjahr gibt es auch eine Hotline für Männer mit Gewaltproblem unter 0720 70 44 00.

Opfer gut betreuen

Aus ihrer Zeit in der Kriminalprävention weiß Tersch, dass die Zeiten vor und nach einer Krise enorm wichtig sind. „Das Betretungs- und Annäherungsverbot ist eine Akutmaßnahme, aber es ist wichtig, dass Opfer gut betreut werden können.“ Vom Gesetz sei vorgeschrieben, dass die Kinder- und Jugendwohlfahrt und das Gewaltschutzzentrum informiert werden, „und wir in Tirol bemühen uns sehr, eng mit den Organisationen zusammenzuarbeiten“. Es gebe auch Beamte, die speziell für das Thema Gewalt in der Privatsphäre geschult sind, betont die Kriminalistin.

Wimmer-Puchinger erklärt die Bedeutung der Schule und des Jugendamtes: „Das Konzept der Fallkonferenzen hat sich sehr bewährt. Dass sich Vertreter der Schule, Sozialarbeit, Schulpsychologie und andere zusammensetzen, wenn ein Kind verhaltensauffällig wird. Man bespricht, wie man vorgeht und Mutter und Kind schützt.“ Gerade da mangelt es an Personal.

Noch viel Bedarf gebe es beim Thema psychischer Gewalt, so Tersch: „Man hat in den letzten Jahren verstanden, dass es nicht nur körperliche Gewalt gibt. Aber die andere lässt sich viel schwieriger erkennen und auch nachweisen. Aber über kurz oder lang kommt es danach auch zu körperlicher Gewalt.“

Man muss als Gesellschaft klarstellen, dass man Opfer nicht alleine lässt, fordert Wimmer-Puchinger. „Ich habe einmal bei einer Zugfahrt eine heikle Situation mit einem misshandelten Kind erlebt. Ich habe es angesprochen und dann stundenlang mit ihm gespielt und geplaudert. Kein anderer im Waggon hat irgendetwas getan.“

Wenn man sich nicht sicher ist, wie man etwa als Nachbar oder als Freundin vorgehen soll, könne man auch als Außenstehender jederzeit beim Frauennotruf anrufen – und sich beraten lassen, wie man helfen kann. Tersch: „Denn je mehr Gewalt man verhindert, desto besser schützt man die Opfer.“

 

Update: Am 29.12.2020 um 15.39 Uhr wurde ergänzt, dass der Vater die Tat gestanden hat.

Auch Angehörige und Personen aus dem Umfeld einer Betroffenen können sich an die Frauenhelpline unter der Telefonnummer 0800-222-555 (24 Stunden am Tag) oder an die Onlineberatung HelpChat (www.haltdergewalt.at; täglich von 16.00 bis 22.00 Uhr) wenden, wurde betont. Die Gespräche sind auch mehrsprachig möglich (Information: www.frauenhelpline.at).

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