Tatsächlich sind manch elterliche Handlungen eine Gratwanderung, gibt Psychologin Wölfl zu: „Natürlich müssen Eltern ihre Kinder erziehen und ihnen die Grenzen des Zusammenlebens aufzeigen. Aber das muss altersgemäß geschehen: Es ist ein Unterschied, ob man ein zweijähriges Kind anschreit oder einen 15-jährigen Jugendlichen. Wir erleben in unserer Beratung Kinder, die mit wochenlangem Schweigen bestraft werden, oder in ein Zimmer eingesperrt werden.“
Eine wichtige Veränderung sieht die Psychologin: „Heute findet Gewalt gegen Kinder meist nicht mehr aus Überzeugung statt sondern aus Überforderung.“
Gerade die Corona-Situation hat zu einer Verschärfung geführt, bestätigen die auch Expertinnen die Meinung der Bevölkerung: Seit Beginn der Pandemie hat ein Fünftel der Befragten von Gewalt gegen Kinder gehört, weitere 5 Prozent selbst beobachtet und 3 Prozent sogar selbst erlebt. Wölfl geht von einer deutlichen höheren Dunkelziffer aus und betont: „Problematisch ist auch, dass durch Corona der Kontakt von Kindern zu Bezugspersonen wie Kindergärtnerinnen oder Lehrerinnen gefehlt hat, denen sie sich anvertrauen können“.
In der Umfrage wurde auch thematisiert, ob man bereits einmal einen Verdacht auf Gewalt oder sexuellen Missbrauch hatte. Reithner: „11 Prozent haben Gewalt bemerkt und weitere acht Prozent wollten dazu keine Aussage machen – vermutlich weil sie etwas mitbekommen haben.“ Wölfl: „Ich denke, dass das eigentlich viel mehr Menschen sind. Wie oft erlebt man auf der Straße, dass Kinder von ihren Eltern übergriffig behandelt werden?“
Grund zur Freude geben die Antworten zur Zivilcourage: „Jetzt sagen 51 Prozent, dass sie etwas dagegen unternommen haben, vor vier Jahren waren es noch 36 Prozent.“ Meist wurden Kinder- und Jugendhilfe, Vertrauenspersonen oder Polizei informiert.
Die Kinder seien sich ihrer Rechte mehr bewusst, berichtet Jutta Falger, Leiterin der Kinderheilkunde in Landesklinikum Gänserndorf-Mistelbach: „Ein Mädchen wurde von seiner Mutter mit einem Stock geschlagen und ist mit ihrer Freundin zu uns in Spital gekommen, um die Gewalt nachzuweisen.“
Sie beobachtet derzeit in ihrem Alltag mehr Kinder mit psychosomatischen Symptomen, die auch von auf Gewalterfahrungen ausgelöst werden können, wie chronische Bauch- und Kopfschmerzen. Ärztin Falger wünscht sich, „dass alle Personen, die mit Kindern arbeiten, wie Pädagogen, Ärzte oder Betreuer geschult werden, worauf sie achten sollen und besonders, wo die Kinder weitere Hilfe bekommen können.“
Wölfl geht sogar einen Schritt weiter: „Nach so vielen Jahren in der Kinderschutzarbeit würde ich sogar verpflichtende Elternaufklärung im Zusammenhang mit dem Mutter-Kind-Pass fordern. Das erste Kind, das manche Eltern im Arm halten, ist ihr eigenes, und dann haben sie keine Ahnung, wie sie es beruhigen und selbst die Nerven bewahren. Und niemand schüttelt ein Baby, weil er das will.“
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