Keiner versteht den anderen: Ist jeder in diesem Buch ein „Fremder“?
Früher dachte ich, dass meine Eltern diesen Namen nicht verdienen. Ich kannte Albert Camus’ „Der Fremde“ und fand es zu elegant und zu dramatisch für meine Familie, die sich so vulgär ausdrückte. Meine Mutter war ja sehr stolz darauf, wenn man sie aufgrund ihrer seltsamen Art zu sprechen für eine Fremde anstatt für gehörlos hielt. Ich brauchte lang, um zu begreifen, dass diese Entscheidung mit persönlicher Freiheit zu tun hatte. Alle, auch die Hörenden in meiner Familie, weigerten sich, die Sprache der anderen zu lernen. Sie bevorzugten es, Zäune aufzubauen und Herrscher in ihrem eigenen kleinen Reich zu bleiben. Als ich nach London zog, verstand ich sie plötzlich. Ich sprach zwar die Sprache, aber ich habe trotzdem nicht zu den anderen gepasst. Ich blieb eine Fremde.
Sie betrachteten Ihre Eltern als Außerirdische. Warum?
Als ich klein war, nahm mich mein Bruder zur Seite und sagte: „Jetzt bist du alt genug, um es zu erfahren: Unsere Eltern sind Außerirdische. Sie tun nur so, als ob sie taub wären, um uns zu überwachen.“ Ich versuchte daraufhin, meine Mutter zu enttarnen, ich schrie sie an, aber das nützte natürlich nichts. Kennen Sie den Film „The Arrival“? Er handelt davon, dass Außerirdische uns mit ihrer schwer zu entschlüsselnden Zeichensprache eine Botschaft bringen wollen. Aber wir sind darauf trainiert, dass Außerirdische Böses wollen, und hören deshalb nicht hin. Das hat mich sehr an meine Eltern erinnert.
Kinder sind konformistisch. Haben Sie sich für Ihre gehörlosen Eltern geschämt?
Wir wuchsen sehr isoliert auf. Das war eine sehr radikale Entscheidung meiner Mutter, die beweisen wollte, dass sie nicht behindert ist und alles allein schafft. Erst später habe ich Kinder anderer gehörloser Eltern kennengelernt und gesehen, dass es da eine Gemeinschaft gibt. Wir gehörten da nicht dazu. Meine Mutter war ja in keiner Weise der Idealtyp einer Mutter, insbesondere, als wir in ein kleines Dorf nach Süditalien zogen. Sie trug Glatze, selbstgefärbte Kleidung, trank und war insgesamt ziemlich rebellisch. Das war schwierig.
Ihre Eltern verweigern, aber beherrschen Gebärdensprache?
Ja, natürlich. Mein Vater hasst das derartig, dass er mir sogar mein normales, typisch italienisches Gestikulieren abgewöhnen wollte (lacht).
Gab es manchmal sprachliche Missverständnisse?
Klar. Viele gehörlose Menschen erkennen Sarkasmus nicht gut. Als ich ein sarkastischer Teenager war, gab’s oft Probleme. Grundsätzlich ist Sprache für Gehörlose sehr wichtig. In Italien hat man mein Buch dafür kritisiert, dass es im Verhältnis zur ungewöhnlichen Erzählung sprachlich zu wenig avantgardistisch ist. Ich wollte das so. Ich wollte, dass meine Mutter es versteht.
Jetzt, wo alle Masken tragen, können Ihre Eltern ja keine Lippen lesen. Wie verstehen sie die anderen?
Es wird viel geschrieben. Außerdem kann meine Mutter Gesichter insgesamt sehr gut lesen, auch wenn sie die Lippen nicht sieht
Was sagen Ihre Eltern zu Ihrem Buch?
Meiner Mutter gefällt es ganz gut, aber sie hält es für reine Erfindung. Mein Vater interessiert sich eigentlich nur dafür, dass ich Preise gewinne und ein schönes Kleid trage.
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