Was Söhne über ihre Väter denken
Am Anfang war die Großmutter. Sie wurde vergesslich. Was würde aus ihren Erinnerungen, ihren Erfahrungen, ihren Erlebnissen werden, fragte sich die Enkelin, die Fotokünstlerin Franzi Kreis.
Der unerfüllbare und umso sehnsüchtigere Wunsch, dem Vergessen Einhalt zu bieten, war die Initialzündung für das multimediale Projekt „Finding Motherland“ der in Wien lebenden Künstlerin.
Kreis begann, ihre Großmutter und später ihre Mutter nach den Beziehungen zu ihren Müttern zu fragen. Der eigenen Familie folgten weitere Frauen. Insgesamt 45 Protokolle von Frauen im Alter zwischen neun und 96 Jahren versammelte Kreis für ihr Projekt, das im vergangenen Frühjahr in Wiener Schaufenstern als Wanderausstellung zu sehen war.
Um „Alles über meine Mutter“, wie im gleichnamigen Film, ging es dabei nur am Rande. Kreis’ Arbeiten sind weder Vergangenheitsbewältigung noch Therapiegespräche, wie es bei der Reflexion von Eltern-Kind-Beziehungen gut möglich wäre, sondern gestaltete Momentaufnahmen, die rühren, betroffen machen, durchaus auch zum Schmunzeln bringen können. Sie lassen niemanden kalt. Denn jeder Mensch ist jemandes Kind.
Das Vormittagslicht
Mein Vater hat zwei Angestellte: seine Frau und von der anderen weiß ich nicht, wie sie heißt.
Dieser bemerkenswerte Gedanke eines Buben über seinen Vater ist Teil des Nachfolgeprojekts „Father Earth“, das im kommenden Frühjahr präsentiert werden soll. Derzeit sucht Kreis noch Protagonisten dafür. Vorgaben gibt es keine. Männer jeden Alters, jeglichen Hintergrundes, sprechen über ihren Vater, Kreis fotografiert sie stets in der eigenen Wohnung und immer zur selben Tageszeit: Das Vormittagslicht ist der visuelle rote Faden, der durch das Projekt führt. Den Porträts ist kein Name, kein Alter, keine Berufsbezeichnung beigestellt, es soll nichts von den Geschichten ablenken.
Geschichten, die durchaus auch Konflikthaftes offenbaren können, wie der Bericht eines jungen Mannes:
Mein Großvater war überzeugter und ranghoher Nazi und mein Onkel ist leider bei der FPÖ, mein Vater hat sich immer in die Musik geflüchtet. An mein Coming-out erinnere ich mich gut, mein Vater hat meinen Freund und mich an seinem Geburtstag im Dorfgasthaus der Familie vorgestellt. Wir haben sogar getanzt und es war befreiend.
(K)ein ganzes Leben
Sie sei, erzählt Kreis, bei allen Gesprächen einer großen Offenheit begegnet. Und das, obwohl oder gerade weil jede Familie schwierige Themen hat. Inhaltlich gibt es keine Vorgaben, die Grundregel ist, „dass nur über das gesprochen wird, worüber man sprechen will“.
Und natürlich gibt es nicht den Anspruch, ein ganzes Leben darzustellen, sondern es geht immer nur um eine momentane Perspektive, die Kreis jeweils „nach Bauchgefühl“ auswählt und festhält.
Die Fotokünstlerin ist sich dabei der Verantwortung bewusst, die die Offenheit ihrer Protagonisten mit sich bringt: „Man kann diese Gespräche nicht nicht privat führen. Es geht um alles andere als Distanz,“ sagt Kreis und bekennt: „Ich hatte selbst bei vielen Gesprächen Tränen in den Augen.“
Es war ein eiskalter Tag im Jänner, wir waren im Wald und mein Vater hat den Baum umgeschnitten, der mir draufgefallen ist. Da war ich 14 Jahre alt.
Der Mann, der das sagt, sitzt im Rollstuhl vor einem Fenster und blickt zugleich sanft und souverän in die Kamera. Es ist unmöglich, sich nicht von seinem Blick angesprochen zu fühlen.
Wie man sich auch insgesamt diesem Projekt schwer entziehen kann. Es berührt, weckt Erinnerungen und in manchen Betrachtern vielleicht die Lust, selbst zu erzählen und sich mit der eigenen Familienbiografie auseinanderzusetzen.
Zeitgeschichte, hautnah
Meine Großmutter trug allen Familienschmuck auf einmal und begrüßte mich bei unserer ersten Begegnung mit den Worten: „Wir haben nichts mit dem Tod deines Vaters zu tun.“ Hätte sie diesen Satz nicht gesagt, hätte ich vielleicht niemals recherchiert.
Manche Familiengeschichten lesen sich wie Kriminalromane, andere wiederum offenbaren faszinierende Stücke von Zeitgeschichte:
Ich erinnere mich, als Kind die große Narbe am Bauch gesehen zu haben und an seine Tätowierung am Unterarm. Mein Vater hat sich unter einem fahrenden Lastwagen festgehalten und ist so aus dem Konzentrationslager entkommen. Er hat bis zu seinem Tod in den 60ern als Jurist für die Verurteilung der Nazis gekämpft, die alle nach wie vor hohe Posten in Wien innehatten.
Geschichtsunterricht aus erster Hand, hautnah.
Doch Kreis geht es nicht darum, wie spannend oder aufregend eine Geschichte ist. Es geht ihr auch nicht darum, objektive Wahrheiten zu finden. Kreis will Empathie fördern. „Ich wünsche mir, dass diese Geschichten und Bilder bei den Zuhörern und Betrachtern das auslösen, was sie in mir ausgelöst haben: Momente des Nachfühlens.“
Männer gesucht
Franzi Kreis porträtiert für ihr multimediales Ausstellungsprojekt „Father Earth“, das ab Frühjahr 2021 auf Tour durch leer stehende Wiener Ladenlokale gehen wird, Söhne und Väter. Erstere sollen – ohne Anspruch auf Objektivität oder historische Wahrheit – die Lebensgeschichten ihrer Väter erzählen. Im Anschluss an jedes Gespräch entsteht ein signifikantes fotografisches Porträt, am liebsten in der Wohnung des Sohnes aufgenommen. In der Ausstellung wird neben jedem Sohn-Porträt ein Kopfhörer hängen, über den die jeweilige Lebensgeschichte des Vaters zu hören sein wird. Ab sofort sucht Kreis Männer, die ab Anfang 2021 und sobald es die Situation erlaubt, von ihrer Familienbiografie berichten. Wer mitmachen möchte, kann sich unter der Email-Adresse fatherearth@franzikreis.com melden.
Vorgaben gibt es keine, es werden Männer jeden Alters und jeglicher Herkunft gesucht.
Alle Infos unter www.franzikreis.com
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