Wie ich halbnackt den Leichnam meines Esels suchte und ein deutsches Vorurteil bestätigte
Jetzt ist er tot. Keine Chance, dass er das übersteht. Es ist die kurze Nüchternheit des Schocks, die mich das denken lässt. Ich weiß, gleich kommt die Panik. Doch bis diese einsetzt, muss ich schauen, ob ich wenigstens etwas tun kann. Im Augenblick bin ich in der denkbar schlechtesten Position dafür. Ich stehe nackt, wie Gott mich schuf, in einem fünf Grad Celsius kalten Bergsee. Noch vor einer Minute war die Welt perfekt, jetzt bin ich alleine. Anni, meine Liebste, ist Horstl nachgerannt. Barfuß. Sie wird ihn nicht mehr einholen können. Zu schnell ist der panische Esel hinter der Geländekante verschwunden, wo es steil bergab geht. Wie in Trance wate ich zum Ufer.
Vor fünf Tagen sind wir in San Romedio (Trentino) aufgebrochen, den „Romediusweg“ zur Romediuskirche in Thaur (Nordtirol) zu gehen. Einen Pilgerweg, der über 180 Kilometer und 7.000 Höhenmeter zur Romediuskirche nach Thaur in Nordtirol führt (zumindest die Eselvariante – jene für Alpinisten legt noch einmal 3.000 Höhenmeter drauf).
Die Anreise war eine Katastrophe. Horstl, mein wackerer Gefährte auf vielen Reisen, Rom-Pilger und Pin-Up-Boy zahlreicher Eselstuten, hatte sich bei einer Rast geweigert, zurück in den Pferdehänger zu gehen. Was ihn sonst ein müdes Schnauben kostet, schien ihm in diesem Moment ein Gang zum Schafott. „Naaaa, bitte nitta, he. I stirb da drinnen. I stirbb!“, hörte ich seine Stimme – gewürzt mit einem klassischen O-Dorf-Akzent – in meinem Kopf. Das passiert mir immer, wenn er stur ist. (O-Dorf ist das Olympische Dorf in Innsbruck.)
Esel-Esoterik
Nachdem sowohl Anni als auch meine Schwester Ida, die uns netterweise nach Trentino fuhr, mit ihren Nerven am Ende waren, entschloss ich mich dazu, einen alten Trick anzuwenden. Ich setzte mich vor den Hänger, hielt Horstl am Halfter fest und streckte ihm mit der anderen Hand eine Karotte entgegen. Dazu säuselte ich ein „Komm her, Du Feiner. Ja, komm her“. Ich streichelte mit schmeichelnden Worten seine aufgewühlte Seele, gab ihm Zuversicht und Liebe in dieser grässlichen Welt. Wir waren geeint durch ein Band tiefen Vertrauens – Mensch und Tier, in Freundschaft vereint. Horstl machte einen Schritt auf mich zu. Es ist völlig egal, ob es die Karotte war oder mein unheimlich blödes, esoterisches Getue. Fakt ist: Es funktioniert nur mit beidem. Wir konnten die Reise fortsetzen.
Und jetzt? Jetzt war das alles umsonst. Ein Himmelfahrtskommando. Wie blöd kann man sein, seinen Esel auf 2.600 Meter Seehöhe zu treiben? Ins Hochgebirge? Wie blöd kann man sein, ihn bei der Pause am Bergsee nicht anzubinden? Es hätte mir klar sein müssen, dass er erschrickt, wenn ich mit einem Freudenschrei aus dem Wasser auftauche. Jetzt ist es zu spät, denke ich mir, als ich Unterhose und Bergschuhe anziehe.
Auf Eselreisen gelten zwei Gesetze: Man wird nur in Ausnahmefällen schneller sein als fünf Kilometer pro Stunde und – und das ist das Wichtigste – es muss immer etwas Schlechtes passieren, damit etwas Gutes passiert. Das ist auch der Hauptgrund, warum ich meine Abenteuer mit Horstl als Pilgerreisen bezeichne. Das Vertrauen darauf, dass es wieder gut wird, solange man einfach weitergeht, dass der liebe Gott dieses Vertrauen belohnt, ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. So wusste ich, dass Gott es mir nur für ein paar Stunden übel nehmen wird, dass Horstl beim Aufgang zur Romediuskirche seine Eselsdukaten fallen ließ.
Während die umstehenden Italiener begeistert die Größe von Horstls Abfallprodukten lobten, klaubte ich sie mit einem Müllsack ein. In weiser Voraussicht auf meine kommende Katharsis hatte der liebe Gott es den Italienern scheinbar verboten, Mistkübel in der Öffentlichkeit aufzustellen. Drei Stunden marschierte ich durch das blühende Nonstal, drei Kilo Eseldukaten in der Hand. Natürlich hätte ich den Sack in den nächsten Busch werfen können, aber als Eselreisender weiß man, was der Himmel von einem verlangt. Und so wunderte es mich nicht, dass nach exakt 180 Minuten wie durch Zufall drei Müllkübel auf der Straße standen.
Wir mussten nicht lange auf das Gute warten. Unser Ein-Sterne-Hotel war angenehmer als wir befürchtet hatten. Horstl wälzte sich im Unkraut des verfallenen Hotelgartens. Anni und ich fielen in einen wohlverdienten Schlaf.
Anni! Ich laufe schneller. Will mir nicht vorstellen, wie sie weinend vor Horstls Kadaver kniet. Sie hat Horstl vom ersten Tag an in ihr Herz geschlossen, auf unserer letzten Reise konnte sie ihn mit Arbeiterliedern zu Höchstleistungen von bis zu 5,54 Kilometern pro Stunde antreiben.
Niemals werden wir wissen, ob sie ihn motiviert oder verschreckt haben. Allerdings ist Horstl von Natur aus Proletarier mit einem Hang zur hierarchischen, totalitären Gesellschaft. Wer das nicht glaubt, sollte Kevin, seinen Art- und Koppelgenossen fragen. Seit Stalins Herrschaft wurde niemand mehr so unterdrückt. Eine Gruppe deutscher Wanderer reißt mich aus meinen Gedanken. Ungläubig sieht mich die Familie an. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Da will man einmal auf den Berg gehen und plötzlich springt ein durchnässter Hinterwäldler in Unterhose über die Felsen und fragt mit herrischer Stimme: „Hobts es meinen Esl gsehn?“ Noch ehe der Vater seinen Schock überwinden kann, laufe ich weiter. In keinem Fall wäre eine Familie einfach so weitergegangen. Weder beim Anblick eines herabstürmenden Esels noch, wenn er zertrümmert vor ihnen liegen würde. Mich schaudert.
Name: Horstl (gesprochen: Horschtl)
Kurzbiografie
17 Jahre alt, 2014 von Armin Arbeiter auf einer Koppel mit zwei Kamelen und einem Lama entdeckt und erworben, 2015 Reise von Innsbruck nach Rom, steht mit zwei weiteren Eseln auf einem Bauernhof in Tirol
Sonstige Reisen:
Innsbruck-Kitzbühel
Bologna-Florenz
St. Romedi-St. Romedi
Stärken
Charme, Geduld mit Hunden, kinderlieb, bergauf gehen
Schwächen
für Essen aller Art, Brücken, Bäche, eigener Geruch
Lieblingsspeise
Karotten – und alles andere
Im Schnitt führen wir gut einhundertmal dasselbe Gespräch pro Tag. „Ja, er gehört uns“, „Er steht bei einem wunderbaren Bauern in Grinzens“, „Ja, er bekommt ausreichend Futter“, „Nein, er ist nicht arm, sondern hat das, was vielen seiner Artgenossen fehlt, nämlich Bewegung“. Wir führen diese Gespräche gerne – auch, wenn manchmal die Zeit drängt oder das Gespräch inmitten eines historischen Stadtzentrums stattfindet, Autos hupen, Kleinkinder wie Hunde von hinten auf Horstl zulaufen und es in wenigen Sekunden zu regnen beginnen wird. Nur in manchen Fragen tauchen regionale Unterschiede auf: Sieht etwa ein Nordtiroler Horstl seine gut fünfzehn Kilogramm Gepäck tragen und mich daneben meine zwanzig schleppen, fragt er spöttisch: „Wer ischn jetz von enk da greaßare Esl?“ Ein Deutscher hingegen sieht die vermeintliche Ungerechtigkeit. Die Schuld des Menschen. Das Leid des Tieres. Und so fragt er meist in anklagendem Ton: „Ist das nich schön, wenn das Tier alles tragen muss? Hmm?“ Es genügt dann, ihm meinen Rucksack in die Hand zu drücken.
Ich habe die Geländekante erreicht, blicke sorgenvoll hinunter – und seufze erleichtert auf. Nur wenige Meter vor mir stehen Anni und Horstl. Der Esel grast, als ob nichts geschehen wäre, Anni atmet noch schneller, hat sein Halfter aber fest im Griff. Anni, die Heldin des Tages.
Der Held
Gestern war der Held ohne Zweifel Horstl. Wir hatten 1.600 Höhenmeter zu bewältigen und erreichten mit letzter Kraft die Bockerhütte, die über Meran thront. Ich dachte bereits an ein kühles Bier, als ich plötzlich einen frei laufenden Haflinger erblickte. Alle Alarmglocken schrillten. Wann immer Pferde auf einer Koppel Horstl erblicken, drehen sie durch. Ich bedeutete Anni und Horstl, sich hinter einem Felsen zu verstecken und ging die zweihundert Meter zur Hütte, wo der Wirt die Schweine fütterte. „Grüß Gott, ich bin mit meiner Freundin und meinem Esel unterwegs. Dürfen wir heute bei Ihnen übernachten?“ „Jo.“ „Und der Haflinger? Macht der eh nichts?“ „Na.“ Ich war nicht vollkommen von der Harmlosigkeit des Pferdes überzeugt, wohl aber von der Gastfreundschaft des Wirts. Außerdem stieg Knödelgeruch aus dem Küchenfenster. Wir schlichen uns hinter Felsen zum Zaun, der die Hütte umgibt.
Noch hatte der Haflinger keine Notiz von Horstl genommen. Erleichtert schloss ich das Zauntor. Der freundliche Hüttenwirt brachte mir mein Bier, während ich Horstl tränkte und absattelte. Anni ließ sich das Matratzenlager zeigen. Als ich gerade dabei war, mich zu entspannen, hörte ich Hufschlag. Der Haflinger, völlig außer sich, war über den Zaun gesprungen und galoppierte auf Horstl zu. Der war schon auf Position und versetzte dem anstürmenden Pferd einen gezielten Tritt auf die Stirn. Der Haflinger bremste auf der Stelle ab. Wurde ruhig. Beschnupperte Horstl, der ihn gewähren ließ. Eine Freundschaft entstand. Oder vielleicht mehr. Denn wie sich herausstellte, war der Haflinger eine Stute mit dem Namen Carina.
Knödel, Bier und Bett waren zu verlockend, um die beiden noch weiter zu stören. Somit weiß ich nicht, was in der Nacht geschah. Am nächsten Tag folgte Carina Horstl jedoch gute fünfhundert Meter, ehe ihr klar wurde, dass er es mit der Monogamie nicht so ernst nimmt. Und so hallte noch länger ein klagendes Wiehern durch die Schluchten, während Horstl weiterkletterte. Bis wir eben jenen Bergsee erreichten.
Wir satteln Horstl wieder auf, schicken uns an, das Spronser Joch zu bezwingen. Auf Fotos haben wir eine steile Felsplatte gesehen. „Ich glaube nicht, dass der Esel das schaffen kann“, hat vor ein paar Stunden ein Bergsteiger zu uns gesagt. Aber der kennt Horstl nicht.
Natürlich haben wir das Joch bezwungen, fanden Obdach im unfreundlichsten Dorf der Welt, einen Tag später im freundlichsten Dorf der Welt. Wir schafften es, einen Kuhangriff abzuwehren, campierten mit feinstem Wein, erfreuten eine Schützenkompanie beim Frühschoppen, trafen auf sehr höfliche O-Dorf-Skater und erreichten schließlich nach insgesamt zehn Tagen die Romediuskirche in Thaur.
Kommentare