Hirnforschung: Warum Pandemie-Kinder beim IQ hinterherhinken
Die Conclusio einer US-amerikanischen Forschergruppe klingt dramatisch: Kleinkinder, die während der Corona-Pandemie zur Welt kamen, sind im Vergleich zu Kindern, die vor der Krise geboren wurden, kognitiv deutlich schlechter aufgestellt.
Ihre Erkenntnis gießen die Wissenschafterinnen und Wissenschafter um den Hirnforscher Sean Deoni von der Brown University in Zahlen:
Demnach lag der IQ von Kindern zwischen drei Monaten und drei Jahren vor Pandemiebeginn im Schnitt bei einem Wert von 100. Bei Kindern, deren Geburtstermin in die Krise fiel, sank dieser Wert auf 78.
Für ihre Analyse sammelte das Team Daten von 672 Kindern aus dem US-Bundesstaat Rhode Island: 308 erblickten vor dem Jänner 2019 das Licht der Welt, 188 nach dem Juli 2020, weitere 176 wurden zwischen Jänner 2019 und März 2020 geboren – darunter keine Frühgeburten oder Babys mit Entwicklungsstörungen. Bei sozioökonomisch schlechter gestellen Familien war die IQ-Differenz im zeitlichen Vergleich ausgeprägter.
Limitierte Lebensrealität
Die Studie hat den externen wissenschaftlichen Prüfprozess noch nicht durchlaufen. Aus Sicht der renommierten deutschen Intelligenzforscherin und Psychologin Elsbeth Stern sind die Ergebnisse keine allzu große Überraschung: „Standardisierte Messverfahren (bei Kleinkindern nutzt man Verhaltensbeobachtungen, Anm.) setzen voraus, dass ein Kind bestimmte Dinge erlebt und gelernt hat“, erklärt Stern, die an der ETH Zürich lehrt.
Social Distancing und Quarantäne-Maßnahmen hätten die Vielfalt kindlicher Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten massiv beschränkt. "Schon für die Kleinsten ist es wichtig, dass sie viel Ansprache bekommen und nicht nur im engsten Familienkreis in Interaktion treten." Das legt beispielsweise den Grundstein für einen umfangreichen Wortschatz.
Begegnungen mit anderen Kleinkindern waren vielfach nur begrenzt möglich. "Dabei ist es eine wichtige Entwicklungsaufgabe, sich im Sandkasten zu einigen, wem die Schaufel gehört", beschreibt Stern.
Hinzu komme, das betonen auch die US-Forscher, dass Eltern während des Ausnahmezustandes zunehmend an ihre emotionalen Grenzen stießen. Stern: "Mütter und Väter waren mit sich selbst befasst, durch Existenzängste und Zukunftssorgen belastet. Ein adäquates Eingehen auf kindliche Bedürfnisse war da nicht immer möglich."
Im Mutterbauch bildet sich in der dritten Woche nach der Empfängnis die Basis für das Gehirn des Babys: aus dem Neuralrohr entstehen später Gehirn und Rückenmark.
Bei der Geburt verfügt das Gehirn eines Säuglings über etwa 100 Milliarden Nervenzellen, die aber noch wenig vernetzt sind.
Das Gehirn eines Dreijährigen ist mehr als doppelt so aktiv wie das eines Erwachsenen – und ein Energiefresser: 50 Prozent des täglichen Kalorienbedarfs werden für das Hirn benötigt. Bei Erwachsenen sind es rund 18 Prozent.
750 Gramm wiegt das Gehirn eines Kindes am Ende des 1. Lebensjahres; bei der Geburt wiegt es 300 Gramm.
Lernen im Vorbeigehen
Fehlende Naturerlebnisse taten ihr Übriges: "In vielen Ländern, etwa in Spanien, durften Kinder kaum vor die Tür. Dabei lässt sich gerade auf Spaziergängen beiläufig so viel Neues entdecken und gemeinsam mit Eltern benennen."
Die Einschätzung der Psychologin deckt sich mit dem Ergebnis einer Studie italienischer, spanischer und portugiesischer Forscher: Pandemie-bedingte Verhaltensveränderungen – Stimmungsschwankungen, verringerte Aufmerksamkeitsspanne sowie erhöhte Reizbarkeit, Langeweile, Ängstlichkeit und Unruhe – waren bei Kindern mit Zugang zu einem Garten weniger stark ausgeprägt.
Die gute Nachricht: "Die Erfahrungslücken bedeuten nicht automatisch ein permanentes kognitives Defizit", weiß Stern. Allerdings sei die Studie einmal mehr Hinweis darauf, "dass wir jetzt nicht weitermachen können wie bisher und Kinder einiges aufarbeiten müssen".
Dass sich die Daten eins zu eins auf Österreich übertragen lassen, bezweifelt Psychologin Ursula Kastner-Koller, die an der Uni Wien die Intelligenzentwicklung von Kleinkindern erforscht: "Die soziale Absicherung von Eltern ist hier viel besser als in den USA, wo Mütter und Väter sehr viel mehr Stress ausgesetzt sind, wenn Betreuungseinrichtungen ausfallen."
Gut fördern
Der IQ ist laut Stern bei Kindern aber ohnehin nicht das Maß aller Dinge, "stabilisiert sich erst im Volksschulalter und muss nicht zwingend für die spätere Intelligenz von Bedeutung sein".
Damit Kinder aus ihrer Robustheit schöpfen und Versäumtes nachholen können, müssen sich Eltern Gedanken machen, wo sie Angebote und Akzente setzen". Etwa, indem man Freizeit aktiv und draußen gestaltet und den Umgang mit anderen Kindern verstärkt ermöglicht.
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