Generation "Honjok": Die neuen Einzelgänger
Eine junge Frau betritt ein Restaurant in Seoul. Sie bittet um einen Tisch für sich allein, bestellt Ramen und Rotwein, fischt einen Roman aus ihrer Tasche und beginnt zu lesen. Ringsum verweilen Gäste auf anderen Tischen ebenfalls solo. Blickdichte Trennscheiben separieren die Männer und Frauen, die keine Notiz voneinander zu nehmen scheinen.
Solche Szenen sind in der südkoreanischen Millionenmetropole längst keine Seltenheit mehr. In dem kollektivistisch geprägten Staat ist das selbst gewählte Einzelgängertum populär geworden. Davon zeugen zigfach im Netz geteilte Bilder von einsam essenden Südkoreanern, Blogs, die Einblicke ins "Loner-Life" geben oder Apps, die Konsumgüter für den Alltag auf Solopfaden preisen. Benannt wurde das Phänomen mit dem Begriff "Honjok" – aus den Wörtern "hon" (allein) und "jok" (Stamm).
Einsame Zuflucht
"Das Abkapselungsbedürfnis kommt daher, dass die Leistungsgesellschaft vor allem in Teilen Asiens stark ausgeprägt ist", erläutert Psychologin Karin Flenreiss-Frankl. Junge seien davon zunehmend überfordert. "Um vor dem Druck, der Unsicherheit, vielleicht auch der Konfrontation mit anderen zu flüchten, ziehen sie sich zurück, suchen im Alleinsein Rückhalt und eine kontrollierbare Situation." Wegen des oft enorm hohen Arbeitspensums bleibe auch wenig Zeit für Nähe und Beziehungen.
In ihrer Praxis beobachtet sie, dass auch hierzulande immer mehr junge Menschen an Überforderung leiden. "Zur mir kommen immer wieder junge Männer und Frauen, die nur mehr Kontakte übers Internet pflegen, denen alles zu viel ist, die nicht wissen, wo sie im Leben hinmöchten und sich komplett einigeln."
Ähnlich sieht es Kulturforscher Thomas Herdin, der hinter dem Siegeszug der sozialen Isolation im asiatischen Raum auch einen Akt des Protests vermutet: "Es kann als Versuch gedeutet werden, sich von kollektivistischen Wurzeln zu befreien, Raum für die eigene Identität und das eigene Lebenskonzept zu beanspruchen und familiäre Verpflichtungen, die in Asien oft vereinnahmend und belastend sind, abzustreifen."
Kinder und Jugendliche werden vor allem in Korea, Japan und China aufs Funktionieren gedrillt, kommen kaum zum Durchatmen. "Da ist es nicht verwunderlich, dass dort oftmals keine in sich ruhenden, zufriedenen Menschen heranwachsen, die sich nicht zuletzt auch in die vermeintlich sichere Einsamkeit stürzen. Sie fallen aus der Gesellschaft und werden sozial nicht aufgefangen", fügt Herdin hinzu. Letztlich sei diese Form der extremen Individualisierung wohl auch Ausdruck dessen, "dass junge Menschen sich überall auf der Welt gern ausprobieren".
Fragile Psyche
Den Trend zur Abschottung sieht Flenreiss-Frankl kritisch: "Rückzug kann für einen bestimmten Zeitraum gut zur Selbstfindung sein. Ist Alleinsein zeitlich begrenzt, etwa bei einem temporären Lockdown, kommt man damit leichter zurecht als mit ungewissen Dimensionen." Verbleibt man über mehrere Monate oder Jahre in Isolation, birgt das Gefahren für die Psyche. "Wer dauerhaft isoliert lebt, entwickelt vermehrt Ängste und depressive Symptome." Nach langen Phasen des Rückzugs "sozial wieder in die Gänge zu kommen", sei fordernd.
Der Mensch ist ein soziales Wesen und braucht Kontakt zu anderen, auch auf körperlicher Ebene: "Das ist ganz wichtig für die psychische Gesundheit. Allein hat man auch kein Gegenüber, mit dem man Gefühle reflektieren kann. Bei Problemen dreht man sich so schnell im Kreis."
Autonomie am Vormarsch
Die Zahl der Alleinlebenden wird in den kommenden zehn Jahren stark steigen, prognostiziert die Statistik Austria. 2019 gab es in Österreich rund 1,48 Millionen Einpersonenhaushalte, 1985 waren es knapp 770.000. Fortschreitende Individualisierung und mehr Trennungen sind unter anderem Gründe dafür. Sich in den eigenen Wänden ungestört einzuquartieren ist nicht zuletzt ein für viele unleistbares Privileg.
Im April erklärten die kanadisch-chinesische Journalistin Crystal Tai und US-Psychologin Francie Healey "Honjok" in ihrem gleichnamigen Buch zum globalen Phänomen – und holten die Bewegung aus dem tristen Eck. In ihrem "Manifest für das selbst gewählte Alleinsein", das Anfang Oktober auf Deutsch erschienen ist, beschreiben sie das Lebensmodell als "inspirierende Haltung, die zu mehr Glück führt".
Gewollter Rückzug kann in der Tat heilsam sein, weiß Flenreiss-Frankl: "Wir leben in hektischen Zeiten, kommen nur selten richtig zur Ruhe. Phasen des Rückzugs können innerer Einkehr dienen, um sich wieder aufs Wesentliche zu besinnen."
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