Generationen von Eltern haben sich bei der Kindererziehung auf Kinderarzt Remo Largo verlassen, seine Bücher wurden millionenfach verkauft. Dieses Jahr spielt er sogar in dem satirischen Schweizer Kinofilm „Wir Eltern“ einen Berater für eine chaotische Familie, also quasi sich selbst.
KURIER: Ihr Ratgeber-Buch „Kinderjahre“ steht in fast jedem Haushalt und wurde nach 20 Jahren neu überarbeitet. Wie haben sich die Kinder in dieser Zeit verändert?
Remo Largo: Ich denke, die Kinder haben sich nicht so verändert. Aber ihre Umwelt massiv, vor allem die Eltern. Mein Eindruck ist, dass die Eltern heutzutage viel mehr existenzielle Ängste haben als vor 20 Jahren. Die Reallöhne sind kaum gestiegen, sie haben weniger Jobsicherheit und Angst um die Zukunft ihrer Kinder. Und die Folge davon ist, dass sehr viel mehr Druck auf die Kinder, vor allem im Schulalter, ausgeübt wird. Dass ein eigentlicher Förderwahn eingesetzt hat und die Kinder darunter leiden.
Es gibt ja alle möglichen Studien, die sagen, Kinder haben mehr Kopfschmerzen, mehr Rückenschmerzen als früher. Ich höre von den Kollegen, dass die psychosomatischen Beschwerden deutlich zugenommen haben, also Schlafstörungen, Bauchweh, Kopfweh, solche Dinge. Und – und das finde ich sehr bedrohlich – weil das kennt man eigentlich bei den Kindern nicht: depressive Verstimmungen hin bis zu einer Art Burnout-Syndrom. Dass Kinder buchstäblich stillstehen, nichts mehr machen, nicht mehr in die Schule gehen. Das finde ich extrem bedrohlich, also das hat man früher nicht gesehen.
Hat man das nicht gesehen oder hat man nicht darauf geachtet?
Nein, das gab es nicht. Also das Burnout-Syndrom, das war ja gut bekannt bei den Erwachsenen und dann kam es plötzlich vor etwa zehn Jahren auch bei den Jugendlichen. Und jetzt zum Teil sogar bei den Kindern. Und wenn man dann in andere Länder schaut, zum Beispiel Japan, dann sieht man, dass das wirklich ein riesiges Problem geworden ist. Kinder, die nicht in die Schule gehen, sind ein „Un“-Thema, über das will man nicht reden, weder die Eltern noch die Schule noch die Politiker, aber ich denke, dass das Problem größer ist als man annimmt. Aber statistische Zahlen gibt es hier nicht.
Sie betonen ja stark mit Ihrem Fit-Konzept, dass Kinder individuell betrachtet werden müssen. Man sagt aber, dass die Eltern immer weniger Intuition haben. Sehen Sie das auch so?
Ja, aber ich schreibe das in erster Linie den Ängsten zu. Bei einer Leseschwäche des Kindes haben die Eltern Angst, dass es nicht ins Gymnasium gehen kann.
Früher wollte jede Familie ein normales Kind haben, deswegen waren Ihre Auswertungen auch so hilfreich, was ein Kind in welcher Phase können sollte. Jetzt hab ich oft den Eindruck, Kinder müssen alle überdurchschnittlich sein.
Wenn Sie drei, vier, fünf, sechs Kinder haben, dann sind Sie froh, wenn sich die einfach gut entwickeln. Aber wenn sie nur eins oder zwei haben, dann steigen zwangsläufig die Erwartungen. Und was Eltern und die Schule sehr ungern hören, das ist, wenn man sagt: „Kein Kind kann sich über sein Entwicklungspotenzial hinaus entwickeln. Aber man geht davon aus, dass wenn man eben die Kinder unter Druck setzt, wenn man sie mehr „fördert“, dass sie dann tatsächlich besser werden. Aber das ist alles nicht der Fall. Sondern oft das Gegenteil, also dass sie dann demotiviert sind, weniger gerne lernen und dann schlimmstenfalls sogar in ihrem Wohlbefinden eingeschränkt sind.
Ein neuer Trend ist das Konzept des „Attachment Parenting“, also das Eltern ganz darauf eingehen, was braucht das Kind jetzt gerade und sich total darauf einstellen.
Mir ist das etwas zu eng. Das Fit-Prinzip macht ja etwas Ähnliches aber viel breiter, indem ich von sechs Grundbedürfnissen ausgehe. Ich bekomme viele Rückmeldungen zu meinen Büchern. Die Eltern sagen, dass sie ein besseres Verständnis für das Kind bekommen haben und dass daraus ein Vertrauen gewachsen ist. Von Erziehungstipps halte ich nicht viel, deswegen sind meine Bücher keine Ratgeber, sondern mehr eine Beschreibung, was Kinder sind.
In Ihrem Buch gibt es einen Vergleich bei der Sauberkeitserziehung, dass Kinder erst älter sauber werden als früher. Heute achten die Eltern mehr darauf zu sagen „Okay, ist das schon die Phase dafür?“. Kann man daraus ableiten, dass Eltern kindorientierter geworden sind?
Auch – aber die Waschmaschine und dann die Wegwerfwindeln haben die Mütter so sehr entlastet, dass sie eben auch anders mit den Kindern umgehen konnten.
Das Smartphone ist der größte Unterschied zwischen dem Erscheinen von „Kinderjahre“ und heute.
Ja, absolut. Aber mich stört nicht, was geschieht, wenn die Kinder in den Medien sind. Mein Problem ist, welche Erfahrungen machen die Kinder NICHT, während sie in den Medien sind und das ist wirklich ein riesiges Problem. Wenn Sie sich jetzt vorstellen, zwischen zwei und fünf Jahren sitzen die Kinder im Durchschnitt bereits 1.000 Stunden vor dem Fernseher, Tablet oder Handy. Was haben Sie in dieser Zeit nicht erlebt? Das ist das Drama. Bringen Sie Ihr Kind mit anderen Kindern zusammen, gehen sie mit ihnen ins Freie! Sind die Eltern bereit, diesen Aufwand zu leisten? Von der Grobmotorik wissen wir schon, dass Sportlehrer und Sportvereine sagen, dass die Kinder weniger gut rückwärts laufen können. Es geht auch um andere Fähigkeiten: Wie gut können sie mit anderen Kindern umgehen, Konflikte lösen, etwas zusammen machen? Das lernt man einfach nicht beim Gamen, im Gegenteil.
Was hat die Beziehung zwischen Eltern und Kindern noch beeinflusst?
Mich beschäftigt sehr, was passiert, wenn sich Eltern trennen und scheiden. Weil das ja sehr stark zugenommen hat. Hauptsächlich geht es um die Bindung, die Beziehung zwischen Vater und Kind. Und die sollte sehr tragfähig sein, damit nach der Trennung die Beziehung aufrecht erhalten bleibt. Also wenn sie das eben nicht ist, dann hat der Vater eigentlich nachher keine Chance. Also mit anderen Worten: wie sehr sich der Vater in den ersten Lebensjahren auf das Kind einlässt, ist sehr wichtig. Auch in Zusammenhang mit dem Elternschaftsurlaub bzw. Vaterschaftsurlaub nach der Geburt. Ich halte die Kleinfamilie für eine Fehlkonstruktion. Bis die industrielle Revolution eingesetzt hat, haben die Menschen immer in Lebensgemeinschaften gelebt. Die Familie war gar nicht so wichtig, sondern Lebensgemeinschaften von vielleicht bis zu 300 Menschen, die sich alle genau gekannt haben. Sie waren alle miteinander vertraut. Jetzt ist die Großfamilie verschwunden und auch die Lebensgemeinschaft. Und das überfordert die meisten Eltern.
Sie meinen den Satz „Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen“.
Die Jungen erleben gar nicht mehr, wie man Kinder erzieht. Dazu brauchen sie andere Kinder unterschiedlichen Alters. Also dann haben wir junge Eltern, die haben nicht den leisesten Schimmer, wie man mit einem Kind umgeht. Sie müssen dann in einen Säuglingskurs gehen, sind extrem auf Ratgeber oder Elternseminare angewiesen. Das ist finde ich sehr traurig, dann ist ein Kind bekommen und aufziehen ein fremdes Territorium. Das erste Baby, das man am Arm hat, ist das eigene.
Mehr über den neuen Film "Wir Eltern" finden Sie hier.
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