Überforderung: Wenn Eltern die Nerven verlieren
Eltern, die schimpfen und schreien, sind derzeit eine wichtige Zielgruppe. In Deutschland landete „Erziehen ohne Schimpfen“ auf den Bestsellerlisten, jetzt kam „Die Schimpf-Diät“ heraus und auf Englisch klingt es noch dramatischer: In „How to Stop Losing Your Sh*t with Your Kids“ erklärt US-Autorin Carla Naumburg, wie man Wutanfälle verhindert.
Mit „Mama, nicht schreien“ eröffneten die österreichische Familientherapeutin Sandra Teml-Jetter und Bloggerin Jeannine Mik das Thema. „Wieso wollen wir die besten Eltern sein und bleiben doch oft so ratlos zurück“, heißt es bei ihnen.
Sobald jemand die Überforderung der heutigen Elterngeneration beklagt, zitiert sofort jemand Sokrates, der sich bereits vor 1400 Jahren über die Frechheit der Jugend ausließ: „Die Schüler fahren den Lehrern über die Nase und so auch ihren Erziehern.“ Aber zuletzt hat sich die Welt tatsächlich verändert.
Bis vor 30 Jahren durften Eltern in Österreich ihre Kinder schlagen. Frankreich hat der Gewalt gegen Kinder erst in diesem Sommer per Gesetz ein Ende gesetzt. Die „g’sunde Watsch’n heißt dort „fessée“ und ist jetzt auch verboten.
Doch viele Probleme der heutigen Familien haben weniger mit Gewalt als mit Nerven zu tun. Wenn Eltern ihr Kind mit ein oder zwei Jahren in der Krippe abgeben, machen sie sich Vorwürfe, Sorgen oder zumindest Gedanken, ob ihr Baby gut aufgehoben ist. Dann ist es bald Zeit, nach der richtigen Schule zu suchen und das Kind für das Aufnahmeprozedere zu drillen. Mit zehn Jahren bekommen Kinder ein Handy, und dann geht es los mit dummen Spielen und ebensolchen Vorbildern.
Den Zwang zur Perfektion empfinden vor allem Mütter heute stärker als früher. Da gab es auch ein, zwei Frauen im Freundeskreis, die alles besser gemacht haben als man selbst. Jetzt ist das Internet voll von ihnen, und sie zeigen allen, wie perfekt ihr Leben ist. Sogar als Mütter unter dem Hashtag #momfails ihre unordentlichen Küchen herzeigten, trug das wenig zur Entspannung bei. Inzwischen ist die Online-Häme über Mütter so häufig geworden, dass sie einen eigenen Namen bekommen hat: Momshaming.
Wer hat noch Respekt?
Es geht auch um die Ansprüche, die jeder heute stellt. An sich, die Kinder, die Eltern. Der Kinderpsychiater und Buchautor Michael Winterhoff beklagt, dass Kinder zu Hause immer weniger Respekt und mit einem Nein umgehen lernen. Das hat bei manchen Familien pädagogische Gründe, bei anderen praktische: Ein liebevolles Nein – wie es der im Juli verstorbene Erziehungsberater Jesper Juul immer gefordert hatte – kostet viel Energie – und die bringen Eltern immer weniger auf. Man kann das beim Handykonsum der Kinder gut beobachten. Es gibt kaum Eltern, die ihn nicht beklagen und sich dabei machtlos fühlen. Im Vergleich zu früher hat tagelanges Computerspielen ungleich mehr Krisenpotenzial als Fernsehen.
Das hat Konsequenzen: In der Familie, wo sich alle hinter dem Smartphone verschanzen. In der Schule, wo der Umgangston rauer geworden ist. An der Uni, wo sich Professoren über mangelnde Leistungsbereitschaft von Studenten wundern. In Beziehungen, in denen das Commitment fehlt. Auf dem Arbeitsmarkt, wo sich die Chefs vor den Millennials fürchten.
Lösungen? Eltern besser dabei unterstützen, ihre Verantwortung zu übernehmen. Sie beim Erziehen begleiten, niederschwellig Familienberatung anbieten, schnelle Hilfe, wenn echte Probleme wie psychische Störungen auftreten.
Und: In der Schule mehr Fokus darauf richten, junge Menschen mit Gefühl und Verstand heranzubilden. In England und Deutschland steht seit heuer Achtsamkeit auf dem Stundenplan. So etwas bringt mehr, als Kinder mit unnötigem Detailwissen vollzustopfen. Das hat ohnehin jeder am Handy verfügbar.
Die Grundaussage ist überall dieselbe, die Details unterscheiden sich: Eltern, verschnauft mal, achtet auf euch selbst, erinnert euch an eure Kindheit. Jedenfalls geht es ihnen nach dem Lesen besser.
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