Wien im Fiebertraum: Wie das Coronavirus die Hektik dämpft
Seit ein paar Tagen tut sich am Wiener Michaelerplatz ein seltenes Phänomen auf. Auf den beiden Bankerln neben der Kirche, wo am Nachmittag die Sonne so schön hinscheint, ist regelmäßig ein Platz frei. Manchmal sind es sogar zwei.
Wenn man sich hinsetzt, blickt man plötzlich nicht mehr auf Menschenmassen, die sich in Richtung Graben drängen. Man erspäht zwischen den wenigen Passanten das Looshaus, das Palais Herberstein und das Michaelertor.
Eine Frau im hellblauen Mantel genießt das. Die Wienerin lebt und arbeitet im 1. Bezirk, sie verbringt ihre Mittagspause hier: „Die Innenstadt gehört wieder mir.“
Ein Wiener Fiebertraum. Die einen haben Fieber, die anderen fühlen sich wie im Traum. Was die Frau beschreibt, sind die Auswirkungen des Coronavirus.
Die Epidemie dämpft die Lust aufs Reisen. Und das ist im touristischen Herzen Wiens zu spüren: Die Innenstadt ist ein bisschen im Standby-Modus. Von der hektischen Geschäftigkeit der Innenstadt ist derzeit wenig(er) zu merken.
So manch Einheimischen, der von den vielen Touristen ohnehin genervt ist, freut das. Die Hotelbetreiber, die Wirte und alle anderen, die von den Besuchern abhängig sind, macht es nervös.
Platz zum Ausweichen
Vor dem Stephansdom wartet ein Mann in einem uniformartigen Mantel auf Kunden. „Royal Orchestra“ steht auf der Mappe unter seinem Arm. Er verkauft Karten für Konzerte im Belvedere.
Im üblichen Gedränge können ihm Passanten, die er anquatscht, nicht so leicht entwischen. An diesem Nachmittag aber haben sie genug Platz, um auszuweichen. Das liegt unter anderem daran, dass keine Touristengruppen zum Dom gekommen sind. Nur eine Volksschulklasse steht neben dem Eingang.
Auch am Fiakerstand ist wenig los. „Man merkt, dass die Chinesen fehlen. Die fahren gerne mit uns“, sagt einer der Fiaker.
Auch die Rikschafahrer müssen sich auf ruhigere Tage einstellen. Nur vereinzelt schiebt einer von ihnen sein Fahrrad über den Stephansplatz. Und das noch dazu leer.
„Statt der üblichen 30 Kunden hatte ich zuletzt nur zehn pro Tag“, sagt auch der Kartenverkäufer. Mit allzu vielen Menschen will er aber ohnehin nicht sprechen. Vor allem nicht mit Italienern oder Chinesen. Wegen der Ansteckungsgefahr.
Neuer Rekord
Im Jahr 2019 wurden in Wien rund 17,6 Millionen Nächtigungen erzielt. Das sind 6,8 Prozent mehr als noch 2018. Auch die Gästeankünfte nahmen um 5,1 Prozent zu: Es kamen rund 7,9 Millionen Touristen in die Stadt.
Ausfälle
83 Prozent der österreichischen Hotels verzeichnen derzeit Stornoanfragen wegen des Virus. Das ergab eine aktuelle Blitzumfrage des Hotelierverbandes mit 550 Teilnehmern. 63 Prozent der Hotels registrieren demnach nur verhaltene Buchungsanfragen.
Bleibt das Geschäft so schlecht, wird ihn sein Arbeitgeber auf Zwangsurlaub schicken.
Hilfe für Hoteliers
Auf diese Strategie setzen derzeit auch die Wiener Hoteliers. Sie sind teilweise mit massiven Stornierungen konfrontiert, vermeldete die Wirtschaftskammer am Donnerstag.
Das Problem: Kommen die Absagen aus Ländern, in denen die Behörden Ausreiseverbote verhängt haben, können keine Stornogebühren verrechnet werden.
Die Bundesregierung hat deshalb Überbrückungskredite im Volumen von zehn Millionen Euro versprochen. Die Österreichische Hoteliervereinigung zweifelt, dass das ausreichen wird.
In der Kurrentgasse steht Karin Artner vor leeren Tischen. „Die Leute reisen wegen des Coronavirus deutlich weniger, das spüren wir“, sagt die Chefin des Traditionslokals Ofenloch.
Reisegruppen haben Reservierungen storniert. Auch manche Wiener sind vorsichtig – und meiden Menschenansammlungen: Artner verzeichne weniger Buchungen für Geburtstagsfeiern als üblich, sagt sie.
Für März und April rechnet die Gastronomin mit Umsatzeinbußen von bis zu acht Prozent. Damit ist sie nicht allein.
Im Schnitzel-Restaurant Figlmüller in der Wollzeile sind mehrere Tische frei – die fast traditionellen Warteschlangen vor dem Eingang fehlen. „Wir bemerken einen Nachfragerückgang speziell aus Italien und Deutschland“, sagt Chef Hans Figlmüller.
Resistent
Nur ein einziger Ort in der Wiener Innenstadt scheint sogar dem Coronavirus zu trotzen. Es braucht schon mehr als Husten und Fieber, um die Gäste vor dem Café Central zu vertreiben. Selbst an Tagen wie diesen hat sich eine Menschenschlange gebildet.
Rund ein Dutzend Gäste wartet auf einen freien Tisch. Dass ausgerechnet hier der erste gebuchte Fiaker – noch dazu mit vier Japanern – vorbeifährt, passt fast zu gut in die Szenerie.
Die Frau auf der Bank am Michaelerplatz hat ihre Mittagspause mittlerweile beendet. An die Ruhe, an die könnte sie sich gewöhnen. Ideen, wie sie die Zeit ohne Touristen nutzen kann, hat sie inzwischen eine Menge: „Ich werde wieder einmal ins Museum gehen.“
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