Wien Energie: Die liebe Not mit der Notkompetenz des Bürgermeisters
Die Kritik daran, dass Ludwig im Alleingang 1,4 Milliarden Euro freigemacht hat, wird lauter. Juristen streiten über die Auslegung der Stadtverfassung.
Die Erklärungsnot ist derzeit groß bei Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ). Er wird die Debatte darüber, ob er mit der Ausübung seiner Notkompetenz in der Causa Wien Energie im Juli und August seine Befugnisse überschritten oder gar sein Amt missbraucht hat, nicht mehr los. Im Gegenteil: Die Indizien häufen sich, dass Ludwig die 1,4 Milliarden Euro Kreditlinie nicht im Alleingang hätte freigeben müssen – oder gar dürfen.
Aber woran genau scheiden sich die Geister?
Dass Ludwig alleine über so große Mittel verfügen darf, ist – das ist unbestritten – von der Stadtverfassung (s. unten) gedeckt. Zumindest theoretisch. Praktisch regt sich vor allem in der Opposition Widerstand. Durfte Ludwig das denn wirklich?
Knackpunkt ist, wie viel Zeit Ludwig hatte, um sich für die Vergabe der Darlehen zu entscheiden. Hatte er nur wenige Stunden Zeit – und hier sind sich alle Juristen einig –, würde seine Notkompetenz tatsächlich greifen. Hatte er etwas mehr Zeit, wäre er nicht alleine entscheidungsberechtigt gewesen, sondern hätte den Stadtsenat (also das Gremium der Stadträte) einberufen müssen. (Unangenehm: Auch die nicht amtsführenden Stadträte der Opposition wären hier vertreten gewesen.)
Umstritten ist unter den zugezogenen Rechtsexperten nun, was unter „etwas mehr Zeit“ zu verstehen ist. Es geht jedenfalls um Stunden: Laut Bernhard Müller von der Uni Wien, der für die Wiener ÖVP ein Gutachten erstellt hat, hätte der Stadtsenat „innerhalb von nur einem Tag eine Entscheidung treffen können“. Eine physische Anwesenheit wäre dabei nicht notwendig gewesen, eine schriftliche Übereinkunft hätte gereicht.
Das wird von der Magistratsdirektion der Stadt Wien bestritten. Ganz so schnell hätte der Stadtsenat nicht zur Lösung kommen können. Denn es wäre „eine vorangehende Beratung mit physischer Anwesenheit der Stadträte“ notwendig gewesen.
Früherer Einsatz der Notkompetenz
Hier wiederum kontert der Wiener FPÖ-Obmann Dominik Nepp. Auf Twitter teilte er gestern das Bild eines früheren Notfallkompetenz-Beschlusses zu den Covid-19-Massentestungen, der vom Stadtsenat im Jänner des Vorjahres ebenfalls ohne physische Vorbesprechung durchgeführt wurde. Dass diese entfiel, könnte freilich an der damals herrschenden Corona-Situation liegen.
Notkompetenz
Laut Stadtverfassung hat der Bürgermeister der Stadt Wien in Notsituationen die Möglichkeit, Entscheidungen zur Abwehr von Krisen, Engpässen, etc. zu treffen. Diese kommt dann zum Tragen, wenn der Gemeinderat nicht rechtzeitig zusammengerufen werden kann – und auch eine Entscheidung des Stadtsenats zu spät käme
Information
Wenn der Bürgermeister von der Notkompetenz Gebrauch macht, muss er – ebenfalls laut Stadtverfassung – „unverzüglich“ den Gemeinderat informieren
Genehmigung
Im Gemeinderat muss die Handlung im Nachhinein genehmigt werden
Zweiter Zankapfel ist der Informationsfluss. In der Stadtverfassung ist geregelt, dass Ludwig nach der Nutzung der Notkompetenz den Gemeinderat „unverzüglich“ informieren muss. An der Auslegung des Wortes „unverzüglich“ scheiden sich die Geister. Laut Magistratsdirektion bedeutet es „in der nächsten Sitzung“. Das wäre im aktuellen Fall gestern, am 21. September, der Fall gewesen – also mehr als zwei Monate nach der Freigabe der ersten 700 Millionen Euro.
Laut Müllers Gutachten hätte der Bürgermeister jedoch sofort einen Sondergemeinderat einberufen müssen. Das Verstreichen lassen von zwei Monaten sei „verfassungswidrig.“
Große Nervosität
Dass sich die Stadtregierung überhaupt auf diese Detaildebatte mit der Opposition einlässt, zeigt, wie groß die Nervosität ist. Für Aufsehen sorgte am Mittwoch vor allem ein Gastkommentar in der Presse. Verfasst wurde er von Karl Pauer, der in dem Text seine Rechtsmeinung zum Thema Notkompetenz erläutert.
Pauer ist Bereichsleiter für Recht in der Magistratsdirektion und Chef des Wiener Verfassungsdienstes – kurzum: Chef der politisch umstrittenen „MD Recht“, auf deren Gutachten und Rechtsmeinungen sich die regierende SPÖ gerne stützt. Pauer agiert üblicherweise im Verborgenen, ist stiller Berater und Experte – und meidet den Kontakt zu Medien.
Dass der Jurist nun ausrückt, um die Entscheidung des Bürgermeisters zu rechtfertigen, erzürnt die Opposition: ÖVP-Klubobmann Markus Wölbitsch ortet einen „Skandal der Sonderklasse“. Es sei nicht die Aufgabe eines Beamten, „den Bürgermeister zu interpretieren und ihn in einer politischen Auseinandersetzung zu verteidigen“.
Pauer selbst versteht die Aufregung nicht, wie er in einem seltenen Gespräch mit dem KURIER erklärt: Er habe „festgestellt, dass in einem Kernbereich der Stadtverfassung sehr einseitig berichtet wird und dass die Berichte mit meiner Sichtweise so gar nicht zusammenpassen“, sagt Pauer. „Es war mir wichtig, einen Beitrag zur Versachlichung zu leisten.“
Kritik an anderen Juristen
Kritik übt Pauer an Rechtsprofessor Peter Bußjäger von der Uni Innsbruck, der zeitgleich mit Müller im Auftrag der Wiener ÖVP ein fast identes Gutachten über die Notkompetenz erstellte. „Bei aller Wertschätzung: Ich glaube, dass hier die feine Mechanik der Stadtverfassung und der Geschäftsordnungen nicht ganz durchdrungen wurde“, richtet ihm Pauer aus. „Das verstehe ich auch: Ich würde mich mit den Details der Geschäftsordnung des Tiroler Landtages auch nicht auskennen.“
Ob Ludwig seine Notkompetenz in der Causa Wien Energie zurecht ausgeübt habe, will Pauer auf Nachfrage übrigens nicht explizit beantworten: „Das kann ich so nicht beurteilen. Das hängt davon ab, welcher Zeitrahmen ihm zur Verfügung stand, um Entscheidungen zu treffen. Das muss der Herr Bürgermeister beurteilen.“
Auch habe er dem Stadtchef nicht dazu geraten, diesen Schritt zu setzen: „Das war nicht mein Vorschlag“, sagt Pauer. Ob Ludwig ihn zurate gezogen habe, bevor er die 700 Millionen Euro freigab? „Es gab auch kein Gespräch zwischen mir und dem Bürgermeister.“ Er habe aber, sagt Pauer, Einsicht in die Unterlagen genommen.
Und: Der Gastkommentar sei nicht auf Wunsch des Bürgermeisters verfasst worden. „Es war ein Bedürfnis, das in mir entstanden ist.“ Nachsatz: „Aber der Bürgermeister war natürlich informiert.“
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