Warum die Wiener vom Glauben abgefallen sind

Warum die Wiener vom Glauben abgefallen sind
Erstmals rangiert in Wien die Gruppe der Menschen ohne Religionsbekenntnis auf Rang eins der Statistik. Das sei nicht zwingend eine schicksalhafte Entwicklung, betont ein Experte.

Zusammenlegen von Pfarren, Weitergabe von Kirchen an andere Glaubensgemeinschaften und Verschlankung der Strukturen: Es sind sichtbare Zeichen eines stetigen Niedergangs, mit dem die Erzdiözese Wien in den vergangenen Jahren mehrfach für Schlagzeilen gesorgt hat.

Er findet auch in den aktuellen Zahlen von Statistik Austria seinen Ausdruck. Zahlen, die nicht weniger als eine kulturelle Zeitenwende in Wien bedeuten. Denn erstmals ist in der Stadt der Gruppe der Menschen ohne Bekenntnis stärker als jede Glaubensgemeinschaft.

Laut jüngsten Umfragen kommen die Religions- und Konfessionslosen in der Bundeshauptstadt auf 34 Prozent, während die Katholiken mit 32 Prozent nur mehr Platz zwei erreichen. Erst wenn man alle christlichen Glaubensgemeinschaften zusammenrechnet, geht sich noch Platz eins (49 Prozent) aus. Österreichweit haben die Katholiken hingegen noch eine klare Mehrheit. Der Islam liegt in Wien bei mittlerweile 15 Prozent (siehe Grafik).

Die Daten sollten aber mit Vorsicht interpretiert werden, betont Wiens Landesstatistiker Ramon Bauer von der MA 23. „Denn ein Religionsbekenntnis sagt nicht unbedingt etwas über Religiosität aus.“

Warum die Wiener vom Glauben abgefallen sind

Ramon Bauer, MA 23

Zur Verdeutlichung: Säkularisierung im Sinne von Kirchenaustritten sei in der Religionsstatistik vor allem ein Phänomen der katholischen und evangelischen Kirchen, was wohl auch mit dem verpflichtenden Kirchenbeitrag zu tun habe. Einen solchen gebe es im Islam und in den christlich-orthodoxen Kirchen in dieser Form nicht. Zudem sei das Konzept der Mitgliedschaft nicht mit jenem der katholischen Kirche vergleichbar, sagt Bauer. Insofern lasse sich nur schwer beurteilen, wie hoch etwa in diesen Gruppen der Anteil der „Säkularisierten“ oder Kirchenfernen (analog zu den „Taufschein-Katholiken“) ist.

Unvermeidlich?

Klar ist: Der langjährige Trend spricht gegen die katholische Kirche. „In der Forschung wird diskutiert, ob das eine unvermeidliche Entwicklung ist“, sagt der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner zum KURIER. „Definitiv zu Ende ist die Ära, in der es einfach ein Schicksal war, der katholischen Kirche anzugehören. Früher war es selbstverständlich, getauft zu werden, heute können die Menschen unter verschiedenen Möglichkeiten wählen.“ Besonders in der Anonymität der Großstadt, in der es viel leichter als am Land falle, der Kirche den Rücken zu kehren.

„Die Frage ist: Wovon hängt es ab, was die Menschen wählen“, betont Experte Zulehner. Sprich: Welche Anreize kann die Kirche setzen, um attraktiv für die Menschen zu sein?

Warum die Wiener vom Glauben abgefallen sind

Theologe Paul Zulehner

Der Bedarf nach einer starken Religion in einer durch Krisen taumelnden Welt sei durchaus gegeben, ist er überzeugt. Doch anstatt den Menschen Hoffnung zu geben, so Zulehner, sei die Kirche zu sehr mit sich selbst beschäftigt – mit der Aufarbeitung von Missbrauchsskandalen und Strukturreformen. „Die Kirche implodiert nach innen, anstatt nach außen zu explodieren“, formuliert es der Theologe.

Vielleicht stehe am Ende eine kleine, aber qualitativ stärkere Kirche. „Also eine Rückkehr in den biblischen Normalfall – mit einer Kirche, die das Salz der Erde und das Licht der Welt ist, aber nicht die Welt selbst.“

Gerade in Wien sieht Zulehner Anzeichen, dass wieder „frisches Blut“ in die Kirche komme. Mit dem Zuzug von polnischen Katholiken oder Orthodoxen etwa, die Sonntag für Sonntag in vollen Kirchen ihre Messe feiern würden. Die Frage sei, wie sich zwischen ihnen und der angestammten katholischen Kirche eine Brücke schlagen lasse.

„Mission first“

Die Erzdiözese Wien versucht seit einigen Jahren, sich auf die große Zahl von Menschen ohne Bekenntnis einzustellen. „Mission first“, lautet das Motto: „Alle katholischen Gruppen versuchen, aus den Kirchenmauern hinauszugehen und auch die Menschen mit unserer Botschaft zu erreichen und einzuladen, die nicht oder nicht mehr dazugehören“, so ein Sprecher. Etwa in Form von Willkommensteams, die „Neulinge“ bei Gottesdiensten begrüßen und begleiten, bis hin zu Gesprächsreihen, bei denen man den Glauben kennenlernen könne.

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