Utopien für die Stadt von gestern
„Wien darf nicht Chicago werden.“ Kriminalität zwischen endlosen Häuserfluchten, ein zeitloser Agitationsschlager. Die Warnung vor zu reger Bautätigkeit und anderem damit verbundenem Unbill gab es schon im 19. Jahrhundert. Damals fürchtete man, dass Wien dereinst dem „Chicago Europas“ ähneln würde, als das Schriftsteller Marc Twain die Stadt Berlin bezeichnet hatte. Indes, auch Wien wurde bekanntlich bereits im Biedermeier aus- und umgebaut – „Ich muß den Ästheten eine niederschmetternde Mitteilung machen: Alt-Wien war einmal neu“ spottete Karl Kraus später.
Die Angst des Wieners vor dem Hochhaus blieb: 1930 stellte man sich vor, der Stephansdom werde im Jahr 2000 von „Turmbauten“ überragt. Doch immerhin, die Fröhlichkeit werde der „donaudollarfrohen“ Stadt erhalten bleiben, weshalb die Wienerinnen „kniefrei“ tanzen würden, schrieb die Zeitschrift Bühne.
Nun, ganz so schlimm ist es nicht gekommen. Wenige Wienerinnen tanzen derzeit „kniefrei“, und den Stephansdom sieht man auch heute noch ganz gut. Das war es aber auch schon mit der guten Sicht auf die Stadt, meint Architekturhistoriker Markus Kristan. „Die Silhouette, mit der Wien heute wirbt, gibt es nicht mehr. Und es gibt auch keine zeitgenössische Silhouette durch moderne Architektur, die zugleich ein touristischer Anziehungspunkt ist, wie etwa La Défense in Paris. Wenn man sich im Vergleich dazu Aspern anschaut, auf das die aktuelle Stadtplanung sehr stolz ist, muss man sagen: Der Ausdruck Seestadt ist eine tapfere Bezeichnung. Insgesamt fehlen städtebauliche Visionen.“
Die schwebende Stadt
Dabei gab es solche einst durchaus. Ziemlich gewagte sogar. Der Bühnenbauer und Baumeister Friedrich Kiesler stellte sich 1925 das künftige Wien als schwebende Stadt vor. Während zeitgleich der französische Architekt Le Corbusier plante, das Pariser Verkehrschaos unter die Erde zu verbannen, schwebte Kiesler eine Stadt, die „in der Luft hängt“ vor. „Mein Gedanke ist, eine Stadt über dem Erdboden in der freien Luft zu errichten, sie wird durch Unterbauten gestützt, wie man sie bei Brücken errichtet. (...) Der Boden unter der Stadt bleibt frei für Gärten und Parks (...) Darüber erheben wir eine Anzahl von Ebenen, auf denen die Häuser errichtet werden. (...) Hier wird kein Gedränge und kein Lärm herrschen, und vor allem gute Luft“.
Vieles, das uns jetzt bewegt, begleitet die Städter seit Langem. Kiesler hatte die Probleme von heute vorausgesehen. Schlechte Luft, Verkehrschaos, Hitze, Wachstumsdruck. Doch wo sind die Utopien geblieben? Sie fehlen, sagt Historiker Kristan, Kurator der Loos-Schau im MAK. „Wir betreiben Grätzelkultur. Aber gute Architektur braucht echte Stadtplanung.“
Von Anfang an kam diese zögerlich in die Gänge. Als das aus allen Nähten platzende Wien nach der Beseitigung der Stadtmauern 1860 endlich expandieren konnte, ordnete Kaiser Franz Joseph I. den Bau eines Boulevards an dieser Stelle an. Die Geburtsstunde der Ringstraße. Die Stadt war im Umbruch, Vororte wurden eingemeindet, der Zuzug aus den Kronländern ließ die Einwohnerzahl nach oben schnellen. Prognosen gingen davon aus, dass 1940 vier Millionen Menschen in Wien leben würden. Um der neuen Herausforderungen Herr zu werden, lobte die Gemeinde 1892 den „Wettbewerb zum Generalregulierungsplan für Wien“ aus. Ziel: Grobgliederung des Stadtgebiets und Ausgestaltung des Verkehrsnetzes. Die wachsende Stadt schien, trotz ebenso wachsender Probleme, alternativlos.
Der Visionär: Otto Wagner (1841–1918), gewann mit seinem Projekt zur unbegrenzten Großstadt den ersten Preis für den Generalregulierungsplan für Wien, der nach der Eingemeindung der Vororte ausgeschrieben worden war. Geplant war eine Rasterstadt, in der identische Gebäude hundertfach nebeneinanderstehen. Sein Plan wurde nicht realisiert, doch Otto Wagner spielte eine Schlüsselrolle beim Ausbau der städtischen Infrastruktur.
„Es besteht wohl kein Zweifel darüber, dass die Mehrzahl der Menschen lieber in einer Großstadt wohnt als auf dem Land“, schrieb Otto Wagner 1911 in seiner Studie über ebendiese. Wagner gehörte zu den Gewinnern des ausgelobten Wettbewerbs, von dem jedoch nur Teilprojekte realisiert wurden. Wagner durfte immerhin die Stadtbahn und andere öffentliche Infrastrukturen bauen. Im Gegensatz zu Wagners pragmatischen Entwürfen einer unbegrenzten Großstadt plädierte sein Zeitgenosse Camillo Sitte für atmosphärische Stadträume. Er betonte die Bedeutung von Freiflächen, Gärten und Höfen.
Auf Sittes Vorstellungen fußten die städtebaulichen Arbeiten von Adolf Loos eine Architektengeneration später. Auch Loos war kein Verfechter der von Wagner angedachten rasterförmigen Stadtverbauung. Im Rahmen seiner Bauschule machte Loos Stadtspaziergänge mit seinen Studenten, bei denen er nicht nur gegen den historistischen Fassadenstil der Wiener Ringstraßenästhetik wetterte, sondern am liebsten gleich die ganze Straße verändert hätte – sein „Plan von Wien“ geht auf die Zeit vor 1859 zurück. „Loos hielt die Ringstraße für trennender, als es die Stadtmauer war“, sagt Markus Kristan.
Loos und Vassilakou
Loos war der Ansicht, dass anstelle von Zinshäusern öffentliche Gebäude die innere Stadt säumen sollten. Sein „Ring“ sollte anstelle der sogenannten Lastenstraße, der heutigen Zweierlinie, erbaut werden, schildert Loos-Monograph Burkhardt Rukschcio. Sein Entwurf sah eine integrierende Verbindung von Altstadt und umliegenden Bezirken vor, im Gegensatz zur trennenden Ringstraße. Die Pläne klingen auch heute plausibel. Vieles, was unter der ehemaligen grünen Vizebürgermeistern Maria Vassilakou zur autofreien Ringstraße angedacht wurde, ging in eine ähnliche Richtung: grün und verbindend statt trennend und verkehrsintensiv.
Architektonisch optimistisch, atmosphärisch pragmatisch war, was Stadtbaumeister Franz Kühnel 1929 über das Wien von Morgen schrieb: „Wien wird wahrscheinlich im Jahr 2000 Wolkenkratzer und modernste Verkehrswege haben – aber der Wiener an sich wird so wie heute und wie vor hundert Jahren seine Lebensart nur wenig geändert haben“, schrieb er in seinem Artikel „Das Wien der Wolkenkratzer“ (Neues Wiener Journal).
Noch optimistischer klang zur selben Zeit der Architekt Siegfried Theiss: Im Jahre 2000 würde so gut wie jeder die Arbeit von Architekten zu schätzen wissen. Eine Wunschvorstellung, wie man 90 Jahre später weiß. So zumindest lautet das Urteil des Architekten Otto Häuselmayer über die Stadtplanung von heute. „Ich orte unglaubliches Nichtwissen. Eine Millionenstadt sollte es sich leisten, aktiv Städtebau zu betreiben, und sich nicht Investoren ausliefern.“ Häuselmayer, der sich in den 1980er Jahren mit der Bebauung der Wienerberggründe einen Namen machte, sieht die heutige Wiener Stadtplanung „weit weg von ihrer eigenen Geschichte“. Die Stadt, sagt er, sollte von ihrer eigenen Vergangenheit lernen. „Das Rote Wien baute, in dem es die Umgebung berücksichtigte. Das sollte man wieder tun. Doch das sehe ich nicht. Otto Wagners Vorstellung der modernen Großstadt, der 1893 von Stadtrat Eugen Faßbender entworfene Wald- und Wiesengürtel oder die Idee der Gartensiedlung in den 1920ern: Ich frage mich ernsthaft, ob das heute noch jemand kennt.“
Unschöne Dinge
So wertvoll der architektonische Erfahrungsschatz ist – nicht jeder Plan von gestern eignet sich für das Wien von heute. Nach dem Zweiten Weltkrieg machte sich Josef Hoffmann Gedanken zum Wiederaufbau Wiens. Die Staatsoper etwa hätte er gerne umgebaut: „Unschöne Dinge, wie zum Beispiel der unmotivierte, sicher von bestimmter Stelle verlangte Aufbau mit der Kaiserinschrift an unserm Operngebäude, die hässlichen Dachluken, die nicht harmonischen Eckdachlösungen ebenso die zu hohen Postamente der Figuren in der Loggia, könnten entfernt oder richtiggestellt werden“, schrieb er.
Für das Zentrum der Stadt hatte Hoffmann ganz eigene Vorstellungen. „Wie wäre es, wenn man diesen inneren Stadtteil restlos evakuieren und entrümpeln würde? (...) In diesem Stadtteil sollten nur Künstler, Gelehrte, Kunstfreunde und besonders originelle Menschen wohnen.“ Ein Gedanke, an dem mancher Innenstadt-Bewohner von heute zweifellos Gefallen fände.
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