Zeitgeschichte, in Beton gegossen
Wien, in den 1960er-Jahren. Es herrscht noch immer Aufbruchsstimmung nach dem Staatsvertrag. Wirtschaftswunder und beinahe Vollbeschäftigung. Wiens oberster Stadtplaner ist der spätere Stadthallen- und ORF-Architekt Roland Rainer, der gegen „Bauspekulation“ kämpft und für die Innenstadt den „absoluten Vorrang für Fußgänger und Autobusse sowie eine Ausschaltung des Durchzugsverkehrs“ fordert. Der allerdings auch, man kann sich das heute schwer vorstellen, die Westautobahn bis zum Karlsplatz führen will. Die daraus resultierenden Proteste waren die Vorhut vieler Bürgerbewegungen der 70er-Jahre.
Es ist die Zeit der vielfach als „Betonmonster“ verschrieenen Gebäude der Nachkriegsarchitektur: Die im Fachjargon als „brutalistisch“ bezeichneten Bauten gehören zu den prägenden Architekturstilen der Moderne, in Wien zählt etwa die Wotruba-Kirche in Liesing dazu.
Roher Beton
Brutalismus, das kommt vom französischen „béton brut“, „roher Beton“– der bevorzugte Werkstoff des schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier, der beinahe der erste Arbeitgeber des Wiener Architekten Karl Schwanzer geworden wäre. Die Zusammenarbeit scheiterte am Geld, doch der rohe Beton blieb auch in Wien ein Baustoff erster Wahl. Eindrucksvoll veranschaulicht das etwa Karl Schwanzers Erweiterung der Kapuzinergruft. Roher Sichtbeton umgibt die schnörkeligen Särge, in denen unter anderem die Eltern und Verwandten Kaiser Franz Josephs ihre letzte Ruhestätte fanden: Habsburgkitsch trifft graue Betonmasse im Gruftraum, den Schwanzer als großes Grab konzipierte.
Im Jubiläumsjahr 2018 wurden mit Otto Wagner, Gustav Klimt und Egon Schiele die „Wegbereiter der Moderne“ gefeiert. Der 1918, im Todesjahr der drei Künstler geborene Wiener Karl Schwanzer (1975) war zweifellos einer der wichtigsten Architekten der Nachkriegsmoderne.
Er prägte das Stadtbild
Er prägte das Stadtbild der 60er- und 70er-Jahre. Architektur lernte er bei Oswald Haerdtl, dem Erbauer des Wien Museums, der wiederum bei Josef Hoffmann studiert hatte. Schwanzer baute preisgekrönte Ausstellungspavillons, heute denkmalgeschützte Firmengebäude, Kirchen und Wohnhäuser. Tatsächlich im Gedächtnis der Stadt verankert ist er vor allem durch sein „20er Haus“.
Zwei nun erschienene Bücher zeigen Schwanzers Einfluss auf Wien in denkbar unterschiedlicher Weise. Architekturfotograf Stefan Oláh und Fotohistorikerin Ulrike Matzner haben sich auf Spurensuche nach Schwanzers österreichischen, aber auch internationalen Gebäuden begeben.
Der Band „Spuren“ zeigt beeindruckende Aufnahmen aus Wien, München oder Brasília, wo Schwanzer 1974 die österreichische Botschaft erbaute. Außerdem Schwanzers Möbelentwürfe und weniger bekannte öffentliche Bauten wie Kindergärten und Kirchen (etwa die Christkönigskirche in Pötzleinsdorf). Am prominentesten ist Schwanzers im Volksmund bezeichnetes „20er-Haus“: Ein mit dem großen Preis der Expo ausgezeichneter Weltausstellungspavillon, der 1962 von Brüssel nach Wien übersiedelte, hier im Schweizergarten wieder aufgebaut und als Museum für moderne Kunst genutzt wurde. Vierzig Jahre lang war der Stahlskelettbau in Verwendung, bevor er, nach einigen Jahren Leerstand, von Adolf Krischanitz umgebaut und unter dem neuen Namen „21er Haus“ als Dependance des Belvedere wieder in Betrieb genommen wurde.
Das erste Großraumbüro
Ebenfalls stadtbekannt und von weitem sichtbar ist das Philips-Haus auf der Triester Straße: Einer gigantischen Ortstafel gleich, prangt es seit 1964 am Wienerberg. Nur vier Hauptpfeiler tragen die Lasten und ermöglichten damit riesige Innenräume: Schwanzer brockte uns damit Wiens erstes Großraumbüro ein. In München baute er für BMW den bahnbrechenden „Vierzylinder-Büroturm“, in St. Pölten das WIFI, dessen Turm 1999 abgerissen wurde. Nicht realisieren konnte er seine Vision von „Vindobona 2000“: Der spacige Ausstellungspavillon war 1968, zur Feier „50 Jahre Bundeshauptstadt Wien“ am Schwedenplatz geplant– doch dieser war auch damals schon resistent gegenüber Auffrischungsversuchen.
Der Comic „Karl Schwanzer – Architekt aus Leidenschaft“ entstand in Zusammenarbeit von Zeichner Benjamin Swiczinsky, Texter Max Gruber und Herausgeber Martin Schwanzer, der das umfangreiche Archiv seines Vaters Karl verwaltet.
Das Buch wirft einen intensiven Blick auf das späte Nachkriegswien, in dem der „Eiserne Vorhang“ nur wenige Kilometer östlich verläuft. Grau und schwer, wie „ein zu groß gewordener, abgetragener Anzug“ sei die Stadt, heißt es im Vorwort. Der Untergang der Donaumonarchie liege lange zurück, doch die imperiale Pracht der Habsburger sei noch überall gegenwärtig. „In dem launigen Befund, dass man in Wien voll Zuversicht in die Vergangenheit blickt, steckt mehr als nur ein Körnchen Wahrheit.“
Neben Bruno Kreisky, Andy Warhol oder, im Epilog, dem Schauspieler Nicholas Ofczarek, tauchen spätere Architekturberühmtheiten wie Laurids Ortner, Heinz Neumann oder Boris Podrecca auf.
Außerdem Architektur-Doyen Clemens Holzmeister und Schwanzers Studenten wie die Architektengruppe Coop Himmelb(l)au. In seiner Rolle als Architekturkritiker ist Friedrich Achleitner zu sehen, zudem Bauherren wie Rudolf Sallinger und Manfred Mautner Markhof.
Auf dem Cover werden „Drei Jahrzehnte Architektur und Zeitgeschichte“ angekündigt: Ein Versprechen, das dieses Buch einlöst.
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