Drei Jahre nach Wien-Anschlag: "Radikalisierung nimmt zu"
Bei dem Anschlag am 2. November 2020 wurden in der Wiener Innenstadt vier Passanten getötet und 23 Menschen verletzt. Dass der Anschlag nicht verhindert werden konnte, beschäftigt seitdem Politik und Justiz.
Mit dem soeben erschienenen Buch "Trügerische Ruhe - Der Anschlag von Wien und die terroristische Bedrohung in Europa" versucht sich der Terrorexperte Nicolas Stockhammer an einer Aufarbeitung der Geschehnisse.
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Kurz nach dem Anschlag sprach Stockhammer von "graduellem Systemversagen", und das würde er mit seinem heutigen Wissenstand wieder tun. "Definitiv liegt ein behördliches Versagen vor", schreibt er. Der Grund dafür laute Überforderung.
Im ohnehin krisengebeutelten, mittlerweile aufgelösten Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) lag im Herbst 2020 der Fokus auf anderen Dingen: der bevorstehenden "Operation Luxor" samt groß angelegter Razzien im Milieu der Muslimbrüder und der Corona-Pandemie und damit einhergehenden Demonstrationen.
Radikalisierung vor den Augen der Justiz
Diese hätten weitere Kapazitäten der Behörden gebunden, wodurch sich der spätere Attentäter vor den Augen der Justiz, des Staatsschutzes und Deradikalisierungsvereinen vom "schmächtigen Jugendlichen" zum überzeugten Islamisten entwickeln konnte.
Auf 288 Seiten geht Stockhammer der Frage nach, wie sich der Mann, der dem Verfassungsschutz schon in Jugendjahren aufgefallen war und später nach Syrien ausreisen wollte mit dem Ziel, sich dem Islamischen Staat anzuschließen, im Gefängnis weiterradikalisieren konnte und weshalb seine mörderischen Pläne nicht vereitelt wurden.
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"Mein Beweggrund dieses Buch zu schreiben, war, dass ich denke, dass es eine Aufarbeitung von jemandem aus der Forschung braucht, die auch bei der breiten Masse ankommt", sagte der Autor mehrerer Fachbücher zur APA.
Neben dem Fall des Wiener Attentäters geht das Buch auf die Trends und Phänomene des europäischen Jihadismus und die Herausforderungen in der Radikalisierungsbekämpfung ein.
Europa mit "Gelegenheits-Terrorismus" konfrontiert
Denn in einigen Punkten sei die Entwicklung des Wiener Attentäters "typisch" für die eines europäischen Attentäters gewesen. Als "Einzeltäter Plus" hatte er zwar ein Netzwerk, dass ihn in seiner Ideologie unterstützte, die Planung des Anschlags dürfte er aber alleine durchgeführt haben.
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Derzeit sei man in Europa mit sogenanntem "Gelegenheits-Terrorismus" konfrontiert. In der Regel seien es junge Männer, die keine direkte Verbindung zum IS hätten, die Anschläge durchführen. Attentate würden von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen, immer öfter über Ländergrenzen hinweg geplant, die Durchführung meist logistisch einfach, mit Stichwaffen, Alltagsgegenständen wie Küchenmessern oder Autos, wie in Nizza oder Barcelona.
Durch diesen "Low-Level-Terrorismus" würden die Kosten, die operative Planung und die koordinierende Kommunikation reduziert und damit die Wahrscheinlichkeit, dass der Anschlag vereitelt werden könnte, minimiert.
Stockhammer: "Drastisch zunehmende Radikalisierung"
Derzeit beobachte Stockhammer eine "drastisch zunehmende Radikalisierung bei jungen Islamisten und Rechtsextremen", verstärkt durch den Anfang Oktober erneut aufgeflammten Nahost-Konflikt, sieht er im islamistischen Terrorismus aber die größte Gefahr.
Stockhammer, der seit einigen Wochen das neu ins Leben gerufene Studium "Counter Terrorism, CVE and Intelligence" an der Uni Krems leitet, sieht auch in der Virtualisierung des Extremismus große Schwierigkeiten in der Terrorbekämpfung.
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Künftige Täter kommunizieren über Messenger-Dienste und würden sich im "Darknet" für Anschläge rüsten, die Handhabe der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (Nachfolgebehörde des BVT) sei hier zu gering, kritisiert Stockhammer im Gespräch einmal mehr, dass Geheimdienste in anderen Ländern über deutlich mehr Kompetenzen verfügen.
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