Städte-Ranking: Was hinter dem „großartigen“ Wien steckt
Auf den ersten Blick unterscheidet sich Mexiko-Stadt deutlich von Wien. Allein schon von der Höhenlage her. Und der Einwohnerzahl. Schwierig wird’s auch bei den Gemeinsamkeiten mit Kangaroo Island. Jetzt einmal abgesehen davon, dass der zugehörige Staat Australia gern mit Austria verwechselt wird. In Wien ist’s auch nicht so heiß wie in Tucson, Arizona. Oder so weitläufig wie in Vancouver (Kanada). Oder so exotisch wie in Phuket (Thailand) und Rabat (Marokko).
Mit den Gemeinsamkeiten ist es dann nicht mehr so leicht. Was könnte Wien auch schon mit Städten wie den soeben genannten gemeinsam haben? Oder anders gefragt: Was hat Wien zu bieten, um mit Mega-Metropolen und spektakulären Landschaften in aller Welt in einem Atemzug genannt zu werden?
Das US-Magazin Time hat diese Frage jetzt auf seine Art geklärt. Neben 49 anderen märchenhaften Orten der Welt wurde die heimische Hauptstadt in die Liste „World’s Greatest Places 2023“ aufgenommen. Für die Stadt an der Donau ist es eine Premiere: Wien kommt in der seit 2018 jährlich veröffentlichten Liste heuer zum ersten Mal vor. „Eine klassische Stadt, modernisiert“ urteilen die Autoren.
Im Detail haben die im kurzen Begründungstext erwähnten Pluspunkte der Stadt, die ihr die Lorbeeren aus Übersee einbrachten, durchaus Potenzial. Auch für gewisse Aha-Momente. Die Kriterien, die die Jury ausgewählt hat und beschreibt, sind mitunter überraschend und in ihrer Bedeutung nicht einmal manchen Wienern vertraut.
Immer wieder Spitzenplätze
Dass es sich in Wien größtenteils ganz gut lebt, ist nicht unbedingt etwas Neues. Schon öfters wurde die Stadt in verschiedenen Rankings zu einer der lebenswertesten Städte der Welt gewählt. Erst im Vorjahr behauptete sie sich wieder in der Rangliste der „Economist Intelligence Unit“ (EIU) auf dem ersten Platz. Durch die Schließung von Museen und Gastronomie während der Pandemie hatte es 2021 nur für den zwölften Platz gereicht. Für die jährliche Studie des britischen Wirtschaftsmagazins werden 140 Städte nach Kriterien wie Stabilität, Gesundheitssystem, Bildung, soziale Sicherheit oder Infrastruktur bewertet. 2018 hatte Wien als erste europäische Stadt den Spitzenplatz eingenommen.
Ob die Wiener das Time-Ranking freut? Der sprichwörtliche Grant liefert ja immer irgendwas zum Aussetzen. Allerdings ist so ein Blick, wie Ortsfremde die Stadt und manches Selbstverständliche sehen, allemal interessant. Der KURIER unterzieht die (vermeintlichen?) Errungenschaften, die Wien den Platz unter den „World’s Greatest Places“ gesichert haben, einem Faktencheck.
Stadtentwicklung
Bei der Wiener SPÖ kann man zufrieden sein: Seit Jahr und Tag lobt sich die Bürgermeisterpartei für die Seestadt und führt ausländische Gäste durch die Häuserschluchten ihres Prestigeprojekts. Klar, dass das künstlich geschaffene Stadtviertel im 22. Bezirk, an dem seit 2010 gebaut wird, auch im Time-Ranking Erwähnung findet.
Einem Gutteil der Wiener verschließt sich der Charme der Seestadt dennoch. Den See würden weniger Wohlmeinende eher als Lacke bezeichnen. Die Bezeichnung „Stadt in der Stadt“, die das Time-Magazin bemüht, scheint ob der Lage der Seestadt ebenfalls irreführend.
Nicht zuletzt, weil der Stadtteil Probleme mit der Verkehrsanbindung hat – und hier wird es pikant: Zwar loben die Ranking-Macher, dass in der Seestadt „80 Prozent der Bewohner zu Fuß, mit dem Rad oder öffentlich“ unterwegs seien. Dass der Ausbau des Stadtentwicklungsgebiets – konkret jener der Seestadt Nord – ausgerechnet an einem Straßenbauprojekt zu scheitern droht, wird aber nicht erwähnt. Die Seestadt steht im Zentrum des Streits um die Stadtstraße und den Zwist zwischen der Stadtregierung und der grünen Umweltministerin Leonore Gewessler, die die Nordostumfahrung samt Lobautunnel auf Eis gelegt hat. Die Asfinag ist mit den Bauarbeiten zur Anschlussstelle West, die die Seestadt laut Stadt dringend benötigt, in Verzug.
„Mit dem Gleisgarten eröffnet Wiens erste Food Hall (...), der Kutschkermarkt wird klimafreundlich“
Der Wiener Markt- und Gastroszene widmet das Time-Magazin breiten Raum – die Fakten sind zutreffend, die Auswahl ist aber willkürlich: Der „Gleisgarten“ in Meidling, der Wiens erste Indoor-Markthalle werden soll, ist noch eine große Baustelle; von den neun Gastro-Konzepten, die hier Platz finden sollen, sind erst sieben in Umsetzung. Die Lorbeeren kommen also (zu) früh. Vor allem, wenn man bedenkt, dass zeitgleich anderswo – am Naschmarkt – seit Jahren ein peinliches Polit-Hickhack um den Bau einer ganz ähnlichen Halle tobt.
Lobend erwähnt wird von Time hingegen der Kutschkermarkt – und zwar für seine klimafreundliche Umgestaltung und Erweiterung. Man ahnt es: Auch das ist Zukunftsmusik. Der Umbau des Grätzels startet erst, Eröffnung soll im November sein. Der Markt – der in seiner Bedeutung weit hinter Brunnen-, Nasch-, Rochus- und Meidlinger Markt liegt – wird dabei um ganze vier (!) Stände erweitert.
„Die Hälfte der Stadt besteht aus Grünflächen“
Grünflächen in der Stadt bestimmen die Lebensqualität: Daher wird auch im Time-Artikel Wien als grüne Stadt bezeichnet. „Grünräume machen die Hälfte der Stadt aus“ heißt es. Das ist korrekt. Nur die Verteilung ist alles andere als fair. Grün sind vor allem die Außenbezirke, während in den Innenbezirken der Grünraum Mangelware ist – und eher weniger denn mehr wird.
Ein aktuelles Beispiel: Die Grünfläche bei der Venediger Au (Foto rechts) wurde trotz Widerstand zu einer Sporthalle umgebaut. Vielerorts protestieren Initiativen gegen Stadtbaumfällungen, die zu leichtfertig und ohne wissenschaftliche Gutachten vonstattengingen.
Andere Grünflächen wiederum sind nicht öffentlich zugänglich – etwa private Innenhöfe. Und selbst diese sind in Gefahr. Erst am Samstag trafen sich Prominente, um gegen die Verbauung eines grünen Innenhofes in der Josefstadt – dem Bezirk mit dem geringsten Grünraumanteil – mit einer Baumpatenschaft ein Zeichen zu setzen.
„Das Radnetz umfasst über 1.000 Meilen (...), es gibt einen Rad-Highway“
Als die Wiener Stadtregierung ankündigte, rund 20 Millionen Euro in weitere 17 Kilometer Radweg zu investieren, waren viele misstrauisch: War es ein Zufall, dass die Radoffensive kurz nach der Räumung des Protestcamps gegen die Stadtstraße (siehe rechts) präsentiert wurde? Die Opposition kritisierte zudem, dass im Wahlkampf noch 30 Kilometer – also die doppelt so lange Strecke – angekündigt waren.
Im Text des Time-Magazins hört sich das positiver an: Das mehr als 1.000 Meilen (umgerechnet 1.600 Kilometer) lange Radwege-Netz werde weiter ausgebaut.Dass nötige Verknüpfungen fehlen – etwa an der Brünner Straße, Simmeringer Hauptstraße oder Landstraßer Hauptstraße – ist ein anderes Thema. Der Weg ist also noch lang.
Der Rad-Highway, der über sieben Kilometer von der Donaustadt zur City führen soll, ist ebenfalls erst im Bau und noch nicht Realität. Für die erste fertigeTeilstrecke des baulich getrennten Zwei-Richtungs-Radweg zwischen Alter Donau und Donauzentrum wurden zwar Bäume und Sträucher gesetzt, aber auch ein Grünstreifen der Straße entfernt. Und auch dass sich Wien eine „autofreie Zukunft“ verpassen will, ist vielleicht ein kleiner Euphemismus: Über die verkehrsberuhigte Innenstadt, die einen ersten Schritt darstellen könnte, wird seit Jahren politisch gestritten. Eine rasche Lösung ist noch nicht in Sicht.
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