Immer mehr fette Ratten in Wien gesichtet
Am Schwedenplatz herrscht auch um Mitternacht noch reges Leben. Paare spazieren die Rotenturmstraße entlang, obdachlose Menschen suchen einen Platz zum Schlafen, Jugendliche setzen sich auf die Bänke neben einem Fast-Food-Lokal. Sie gönnen sich dort einen Mitternachtssnack.
Ein Pommes fällt auf die Rillen der Holzbank, wie von Geisterhand verschwindet es – in der Bank. Kaum einer bemerkt, dass diebische Nager am Werk sind. Sie sitzen unter den Holzbänken, warten bis Nachschub kommt. Dann bringen sie ihre Beute ins Gebüsch. Die Rede ist von den Schwedenplatz-Ratten
Die Tiere scheinen nicht sonderlich scheu zu sein. Wenn Passanten kommen, huschen sie zwar wieder in den Wiesenabschnitt, aber sobald die nachtaktiven Tierchen etwas Essbares riechen, kehren sie zurück. Am Gehsteig sind sie dann mit ihren 25 Zentimetern von Kopf bis Rumpf und ihrem 20 Zentimeter langem Schwanz doch kaum zu übersehen. Trotz Schnelligkeit und Geschick.
An der Oberfläche
„Die ganze Länge hier ist voll mit Ratten, weil die Menschen alles wegschmeißen“, sagt ein Mitarbeiter der MA 48, während er kehrt. „Bei der Millennium City gibt es noch mehr“, sagt er. Hinter ihm bleibt ein Lkw der Rohrreinigung stehen. Und direkt am Franz-Josefs-Kai wird gerade die Abdichtung der U4-Tunneldecke saniert. Dafür wird einige Meter nach unten gegraben.
Sind die Ratten deswegen an der Oberfläche? „Baustellen sorgen für Unruhe. Generell leben Ratten im Untergrund, dann kommen sie an die Oberfläche. Vor allem, wenn die Population zu groß ist und sie zu wenig Nahrung finden“, sagt Peter Fiedler,
Berufszweigvorsitzender der Wiener Schädlingsbekämpfer. In jüngster Zeit gebe es „gefühlt“ mehr Rattensichtungen, bestätigt er. Genauso wie die MA 40, zuständig für Soziales und Gesundheitsrecht. Genaue Zahlen kann niemand nennen. Mehrere Millionen Ratten gebe es aber sicher, meint Fiedler.
Der Ruf der Ratte ist nicht der beste: Historisch gesehen diente sie als „Taxi“ für den Floh, der die Pest übertrug und den „schwarzen Tod“ ins Land brachte.
Das Ratzenstadel
Der Legende nach soll ein ganzes Wiener Viertel rund um Kaunitz- und Magdalenenstraße im 6. Bezirk nach den Tieren benannt worden sein: das Ratzenstadel. Es war dicht besiedelt, ohne Kanalisation, mit hoher Rattenpopulation. Andere Theorie: die dort im 18. Jahrhundert wohnenden serbischen Familien („Raizen“ genannt) waren für den Namen ausschlaggebend
Hitzestress beim Fressen
An der BOKU wird aktuell daran geforscht, wie sich Hitzestress auf das Fressverhalten der Ratten auswirkt. Die Laborratte wird in der Forschung genützt, weil ihre Stoffwechselwege menschenähnlich sind
Ausstellung im Narrenturm
In der Sonderschau des Naturhistorischen Museums „Krankheiten auf Reisen“ zeigt man derzeit, welche Rolle die Ratte bei der Pest spielte
60 Schädlingsbekämpfer
gibt es in Wien. Das ist die Hälfte aller Betriebe im gesamten Bundesgebiet
100 Gefundene Ratten gibt es im Tierquartier. Sie stammen auch aus Wohnungsauflösungen
Daher gibt es auch noch heute die Wiener Rattenverordnung. Zuständig sind dafür eben die MA 40 (Soziales, Gesundheitsrecht) und die MA 15 (Gesundheit). „Wir beschäftigen uns eher mit der Mindestsicherung, aber ab und zu auch mit der Rattenverordnung“, sagt ein MA-40-Sprecher.
Die Verordnung regelt die Schädlingsbekämpfung – und definiert, wie oft in den jeweiligen Stadtteilen kontrolliert werden muss. Verantwortlich für diese Kontrollen sind die Liegenschaftseigentümer. Bis zu drei Jahre lang müssen die Kontrollbestätigungen aufgehoben werden. Wer säumig ist, dem drohen Strafen von bis zu 700 Euro. Die Kontrollpflicht gilt auch für die Stadtgärten, Parks, Müllplätze oder die U-Bahn-Baustellen der Wiener Linien.
„Jede Baugrube oder jede Liegenschaft muss regelmäßig, je nachdem wo sie sich befindet, sechs oder drei Mal im Jahr kontrollieren“, erklärt Schädlingsbekämpfer Fiedler. Das heißt: Alle zwei Monate im Stadtinneren, alle vier Monate im Stadtäußeren.
Ratten können nämlich Krankheiten übertragen – wie zum Beispiel Tuberkulose, Typhus, Salmonellose, Hepatitis und Borreliose. Auch mit den Affenpocken wurden sie im Ausland mitunter in Verbindung gebracht (siehe oben).
Kampf gegen Nager
Szenenwechsel: Beim Naschmarkt sieht man nach Mitternacht kaum noch Leute – und auch keine Ratten. Was aber auffällt, sind die Rattenfallen. Ein Indiz dafür, dass man auch hier gegen die Nager kämpft.
Ein wenig weiter, an der U-Bahnbaustelle in der Lindengasse im 7. Bezirk, sollen zahlreiche Nagetiere gesichtet worden sein, berichtete unlängst die Wiener Bezirkszeitung. Durch die Baustelle seien Mäuse plötzlich aus Kellern an die Oberfläche gekommen. Beim nächtlichen Besuch trifft auch der KURIER auf ein bis zwei Mäuschen in der dunklen Gasse. Gröbere Probleme mit Nagetieren oder Meldungen haben laut Bezirksvorstehungen weder der 5., der 6. noch der 7. Bezirk. „Wir haben nur Probleme mit Taubenfütterungen“, heißt es aus der
Bezirksvorstehung der Inneren Stadt. Die Wiener Linien stellen wiederum klar, dass sie sich strengstens an die Rattenverordnung halten.
Haben steigende Temperaturen etwas mit dem Rattenaufkommen zu tun? „Mildere Winter sorgen für weniger erfrorene Ratten, aber zu große Hitze mögen sie auch nicht“, sagt Fielder. Corona spiele eine Rolle: Durch das gestiegene Müllaufkommen der Essensbestellungen in den Pandemie-Jahren gab es mehr Futter für die Tiere.
Noch problematischer ist für Fiedler eine Gesetzesänderung: Bis 2004 waren einzelne Schädlingsbekämpfer fix für bestimmte Rayons zuständig – und die Lage dort besser im Griff. Die EU kippte die Regelung und sorgte für Wettbewerb unter den Unternehmen. „Die Schädlingsbekämpfer verlieren aber den Überblick.“
Kein Wunder also, dass die Ratten am Schwedenplatz so munter vor sich hinpiepsen.
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