Und wieder einmal bestätigt eine Studie, was alle längst wussten: Die Wiener sind grantig. Was macht das Wesen einer Stadt aus - und hat sich das in 20 Jahren verändert?
Wäre Wien eine Person, würde man auf der Straße vermutlich einen Bogen um sie machen. Eine mürrische Frau wäre sie, so um die 50 wahrscheinlich. Mit modischem Chic zwischen Hausmeisterei (Gummihandschuhe und Schlapfen) und altkaiserlicher Tradition (enges Korsett und Handtäschchen) und einem Hang zum Gruftigen, der Fledermäuse um ihren Kopf kreisen lässt. "Machts was wollts, mir is' wurscht“, entfährt es ihr regelmäßig.
Im Jahr 2003 hat sich die Stadtpsychologin Cornelia Ehmayer-Rosinak zum ersten Mal auf die Suche nach dem "Wesen Wiens“ gemacht – und 113 Wienerinnen und Wiener zu den Eigenheiten ihrer Heimat befragt. Und die haben sich nicht zurückgehalten: Als konservativ und weltoffen, dörflich und großstädtisch, rückständig und modern wurde die Hauptstadt damals beschrieben. "Wien pendelt zwischen Ambivalenz, Tod und Schönbrunn, um hier einmal alle Klischees zu bedienen“, resümierte die Expertin.
20 Jahre später hat sie das Experiment wiederholt. Hat sich der Charakter der Hauptstadt über die Jahre verändert und wie sieht der "typische Wiener" eigentlich heute aus?
Wien bleibt ambivalent
Auf die Frage wie ihre Stadt denn charakterlich sei, fanden die Befragten im Jahr 2003 gleich 50 verschiedene Antworten. Allerdings: 40 davon waren negativ. Raunzert, keppelnd und todessehnsüchtig seien sie, die Wienerinnen und Wiener. So war der Eindruck eines Befragten etwa: "Eigentlich eine wunderschöne Stadt, also abgesehen von der Art der Menschen gibt es eigentlich nur Positives.“
Und heute? In den letzten 20 Jahren waren die charakterlichen Verbesserungen, um es in Ehmayer-Rosinaks Worten auszudrücken, "moderat“.
So zeigte sich, dass sich die Wienerinnen und Wiener weiterhin vorwiegend mit negativen Eigenschaften beschreiben.
selbstverliebt
rechthaberisch
neurotisch
werden etwa als typische Charakterzüge genannt. Aber: "Der Wiener Grant hat an Bösartigkeit verloren und ist für die Leute nicht mehr so belastend.“
Wien klingt wie ein Müllabfuhrarbeiter am Morgen
Und wohlzufühlen scheinen sich die Leute in Wien ohnehin. Wie in der ursprünglichen Erhebung werden zahlreiche positive Attribute der Stadt gelobt. Lebenswert sei sie, grün und sinnlich. Öffis, Gemeindebauten, Kaffee- und Konzerthäuser sind beliebt. Aber auch der Pferdegeruch am Stephansplatz, das Gepfeife der Müllabfuhrmitarbeiter am Morgen oder die hohen Töne der vorbeifliegenden Mauersegler.
Wien ist grau und grün zugleich. Modern und veraltet zugleich und der Wiener ist grantig und herzlich zugleich. Von Bobo bis Prolo alles drin. Mundlslang und Schönbrunnerdeutsch - ein Wiener, eine Wienerin kennt und kann beides.
von Interviewpartnerin
Wien sei offener und lebendiger geworden, attestieren die 77 Online-Befragten zudem. 2003 waren noch Autos, Parkplätze und mehr Fahrspuren gefragt. "Verändern“, so drückte es die Studienautorin vor 20 Jahren aus, "ist nicht das große Thema der Wienerinnen und Wiener, da trifft‘s das Bewahren schon viel mehr“.
Doch trotz des Pessimismus "ist über die Jahre doch total viel passiert“, freut sich Ehmayer-Rosinak, die selbst mehrere Umgestaltungsprojekte begleitet. Heute seien Bäume, Grünflächen und autofreie Zonen begehrt. Bürgerbeteiligung werde immer stärker gefordert, erklärt die Expertin.
"Bei der Psychologin legt sich ein Mensch auf die Couch, als Stadtpsychologin legt man eine Stadt auf die Couch“, erklärt Cornelia Ehmayer-Rosinak. Wie sie Stadtpsychologie definieren würde? "Dass wir gemeinsam Stadtentwicklung machen, evidenzbasiert arbeiten und versuchen zu verstehen, warum sich Leute so verhalten, wie sie es tun.“
Mit ihrem Team geht Ehmayer-Rosinak durch Städte, Bezirke oder Grätzel und versucht, alle möglichen Wahrnehmungen von vielen verschiedenen Personengruppen einzufangen. "Man geht aktiv auf Obdachlose, auf Mütter mit kleinen Kindern oder auf Parknutzer zu und hört so lange zu, bis man nichts neues mehr hört“, fasst sie zusammen.
Gibt es den typischen Wiener noch?
Auch für die Zukunft fühlt sich Wien heute gut gewappnet. Wegen der Krisen der letzten Jahre seien mehr Verständnis, mehr Frieden, mehr Solidarität gefragt – "und auch mehr Dankbarkeit für positive Veränderungen.“
Und den typischen Wiener – gibt es den noch und wie sähe er aus? Auch im Jahr 2023 ist er auf jeden Fall Ü40, sind sich die Befragten einig. Die Expertin stimmt zu: "Erst ab 40 wird man so richtig Wienerisch.“ Der Charakter sei dann mehr oder weniger gefestigt, die altersbedingte Sturheit beginne, erklärt sie mit einem Augenzwinkern.
Als besonders charakteristisch "Wienerisch“ sahen die Befragten einen Mann mit Glatze und Bierbauch, sowie "eine Mischung aus schlampig und elegant“, fasst die Stadtpsychologin das eher strenge Urteil zusammen. Aber immerhin: "Er scheint offensichtlich die Kraft zu haben, über die Jahre nicht unterzugehen. Das ist doch auch irgendwie tröstlich, finden Sie nicht?“
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