Sozialmärkte: Hilfe für jene, die um jeden Cent kämpfen

Sozialmärkte: Hilfe für jene, die um jeden Cent kämpfen
Der Wiener Samariterbund verzeichnet ein massives Kundenplus, manche Lebensmittel werden sogar knapp. Der KURIER war vor Ort.

Der Koch ist gerade erst dabei, das dampfende Geschnetzelte anzurichten, doch die Schlange im Sozialmarkt Böckhgasse im Wiener Bezirk Meidling ist schon lang. Einmal wöchentlich veranstaltet der Samariterbund den „Suppentopf“. Von Armut betroffene Menschen bekommen eine warme Mahlzeit. Davor oder danach können sie einkaufen und die so gut wie täglich ausgebuchte Sozialberatung in Anspruch nehmen.

Eine der Ersten ist Annemarie Brezik, die ihren Einkauf bereits erledigt hat und auf Freundinnen für ein gemeinsames Mittagessen wartet. „Ich komm’ schon eine Weile her“, sagt die Stammkundin. Trotz starker Arthritis nehme sie etwas für Nachbarn mit. Diese hätten eine ähnlich kleine Pension, würden aber zögern, im Sozialmarkt einzukaufen. „Ich hab’ in der Familie einen Herrn Professor, der möcht’ mich manchmal ärgern und meint dann, ich nutz’ das System aus. Da antwort’ ich nur: Geh, hoit di Goschn“, erzählt die 80-Jährige, ehe sie lauthals loslacht.

40 Prozent mehr Kunden

Auch wenn viele es nicht so direkt ausdrücken würden wie Frau Brezik, die Hemmschwelle, in den Sozialmarkt zu gehen, hat zuletzt – gezwungenermaßen – stark abgenommen. Obwohl es trotz Teuerung für die meisten Menschen nicht einfach sei, sich einzugestehen, dass sie Hilfe brauchen, ist laut Samariterbund die Anzahl der Kunden um 40 Prozent höher als vor einem Jahr. 22.000 Kunden kommen derzeit allein in die Wiener Märkte. Kein Wunder, in Österreich sind 17,5 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet. Das entspricht 1.555.000 Menschen.

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Die Sozialmärkte stellt das vor eine Herausforderung, denn immer häufiger werden bestimmte Produkte knapp. „Da spielen mehrere Faktoren zusammen. Die Lebensmittelwertigkeit hat sich für Lebensmittelketten verändert, was im Sinne der Nachhaltigkeit gut ist. Aber natürlich bleibt für uns weniger Ware übrig. Gleichzeitig machen die Preise fast allen zu schaffen, wodurch die Spendenfreudigkeit abgenommen hat“, erklärt Georg Jelenko, der beim Samariterbund die Sozialmärkte leitet.

Sozialmärkte: Hilfe für jene, die um jeden Cent kämpfen

Rainer Bartel arbeitete 40 Jahre lang im Sozialministerium, seine Pension sei aber nicht so hoch. „Das wird überprüft, wenn man das erste Mal einkaufen kommt“, so der 65-Jährige. Er sei auch schon in anderen Sozialmärkten gewesen, die Auswahl wäre dort aber viel schlechter. Hier komme er gern her, die Qualität sei gut und man könne die Ware ja auch immer einfrieren. „Ich muss schon schauen, dass es sich finanziell ausgeht, deshalb komme ich ein- bis zweimal die Woche in den Sozialmarkt.“ 

Sozialmärkte: Hilfe für jene, die um jeden Cent kämpfen

Die 64-jährige Roswitha Kara hat vor der Pension lange als Heimhilfe und Bedienerin gearbeitet. Dass sie aufs Geld schauen muss, ist für sie nichts Neues: „Das war schon immer so, aber es könnte schlimmer sein.“ Sie kommt seit der Eröffnung 2019 in den Sozialmarkt Böckhgasse: „Mir fällt auf, dass es immer mehr Kunden werden.“ Sie selbst kaufe, was gerade billig sei, denn ihre Miete wurde unlängst um 100 Euro erhöht. Besonders gefällt ihr am Sozialmarkt aber, dass hier Essen vor dem Wegschmeißen gerettet wird. 

Sozialmärkte: Hilfe für jene, die um jeden Cent kämpfen

Die 75-jährige Ukrainerin Nadiya Fattah ist vor dem Krieg nach Wien geflüchtet. Sie spricht Deutsch, weil sie das in der Schule und während des Studiums gelernt hat. Sie war früher schon einmal in Österreich, „aber jetzt ist alles so viel teurer“. Seit rund einem Jahr ist sie deshalb wöchentlich Kundin im Sozialmarkt Böckghasse. Sie gehe zwar auch noch in den normalen Supermarkt, aber die meisten Produkte, die sie brauche, bekomme sie hier. „Darüber bin ich sehr froh“, erzählt die geflüchtete Pensionistin.  

Zuletzt startete der Samariterbund deshalb einen Aufruf für Lebensmittelspenden. „Unterstützen kann jeder. Ob finanziell, per Sachspende oder als Ehrenamtlicher“, betont die Präsidentin des Wiener Samariterbunds, Susanne Drapalik. Man freue sich auch über ein Packerl Nudeln. Neben Grundnahrungsmitteln seien Hygieneartikel gefragt.

Dass es das Angebot braucht, zeigt das Beispiel des 37-jährigen Stefan Prvulovic. Er arbeitet als Entrümpler, gewisse Produkte kann er sich aber nur mehr schwer leisten: „Das erste Mal herzukommen, war eine Überwindung. Aber ich achte auf meine Ernährung und die Preise für Obst und Gemüse in Supermärkten sind eine Frechheit. Das günstigere Angebot hier hilft mir, über die Runden zu kommen.“

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Der ernährungsbewusste Entrümpler, dessen Wagerl voll mit Bananen und Paradeisern ist, ist einer von rund 300 Kunden, die täglich in der Böckhgasse einkaufen. Eine durchschnittliche Familie kann sich so monatlich 200 Euro sparen. Ein Betrag, der einen Unterschied macht: „Das ist für viele nicht vorstellbar, aber unsere Kunden kämpfen das ganze Monat um jeden Cent, damit am Ende was übrig ist. Viele sparen den ganzen Sommer für den Schulstart“, schildert Jelenko. Betroffen seien vor allem Alleinerzieherinnen, Mindestpensionisten sowie Migranten.

In der „Suppenküche“ hat mittlerweile jeder sein Mittagessen bekommen. Jetzt sitzen die Menschen zusammen, tratschen und scherzen mit dem Koch. In diesem Moment scheint der Kampf gegen die Einsamkeit genauso wichtig wie jener gegen den Hunger. Jelenko bestätigt diesen Eindruck: „Wir können hier vielleicht nicht die Armut bekämpfen, aber wir können zumindest den davon betroffenen Menschen helfen.“

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