Beispiellos
„Ich arbeite seit elf Jahren bei der Caritas. So schlimm war’s noch nie, die letzten Monate waren beispiellos“, sagt Doris Anzengruber, die in der Caritas die Sozialberatung leitet.
Der Druck auf die Menschen habe extrem zugenommen, der Bedarf an Hilfe übersteige die Möglichkeiten. Anzengruber kann viel erzählen von der Armut. Von Alleinerzieherinnen, die ihre Töchter nicht auf Geburtstagsfeiern schicken, weil das Geld fürs Geschenk fehlt; oder von Mindestpensionistinnen, die ihren Fernseher verkaufen, weil die Gasrechnung bezahlt werden will.
Seit jeher existiert der Vorbehalt, dass beim Thema Armut zu viel anekdotisches Wissen und zu wenige Fakten kursieren.
Dem will die Caritas etwas entgegenhalten. Gemeinsam mit dem Sozialforschungsinstitut SORA wurde am Donnerstag im beschriebenen Penzinger Pfarrzentrum eine in der Form neue Studie präsentiert: Mehr als 400 von der Caritas betreute Menschen wurden über vier Monate hinweg nach sozialwissenschaftlich belastbaren Standards befragt. „Wir haben die Armut ein Stück weit neu vermessen“, sagt SORA-Chef Günther Ogris.
Die Befragten stünden stellvertretend für 201.000 Menschen in Österreich, die als erheblich materiell und sozial depriviert gelten.
Was aber heißt es, Deprivation, Entbehrungen, kurzum: Armut, zu erleiden?
"Woher soll ich das Geld nehmen?"
Manchmal hilft ein Vergleich: So sagt de facto jeder von Armut Betroffene, dass eine unerwartete Ausgabe von 1.300 Euro nicht machbar ist; bei der „Restbevölkerung“ ist das jeder Dritte.
Und während drei Viertel der armen Mitmenschen nur jeden zweiten Tag ein ordentliches Hauptgericht essen und zudem ihre Wohnung nicht richtig warm halten können, gilt das für die restliche Bevölkerung durchschnittlich nur in jedem zehnten Fall.
„Ich hätte mir nie gedacht, dass ich einmal auf die Unterstützung einer Hilfsorganisation angewiesen sein werde.“ Diesen Satz unterschreiben immerhin 72 Prozent der Betroffenen.
Es ist eine Aussage, die auch auf Frau Schnirch zutrifft. Als sie eine Energierechnung von 2.500 Euro in der Post fand, war sie verzweifelt. „Ich bin Mindestrentnerin, ich wusste nicht, woher ich das Geld nehmen soll.“ Zweimal war Frau Schnirch auf dem Weg zur Sozialberatung. Zweimal hat sie umgedreht. „Erst beim dritten Anlauf hatte sie den Mut gehabt, die Hilfe anzunehmen“, erzählt der Wiener Caritas-Direktor Klaus Schwertner. „Diese Menschen sind nicht ‚sozial schwach‘, sie sind sogar sehr stark und verdienen dafür Anerkennung.“
"Energiearmutsgesetz"
Damit ist man bei der Frage, was politisch geschehen muss und kann. Schwertner fordert, die staatlichen Hilfsleistungen zu ändern. Weg von Einmalzahlungen, hin zu Strukturellem.
Bedarfsorientierte Kinderrichtsätze wären eine Möglichkeit. Die Valorisierung von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe mit dem Blick auf die Teuerung das andere. Und beim Wohnen und den Energiekosten vermisst der Armutsexperte nachhaltige Lösungen. „Viele der gesetzten politischen Maßnahmen wie die Strompreisbremse oder die Aufstockung des Wohn- und Heizkostenzuschusses laufen aus.“
Sinnvoll wäre ein geltendes „Energiearmutsgesetz“, das einheitliche Hilfsleistungen für die Unterstützung von armutsbetroffenen Haushalten vorsieht.
„Uns wird ja mitunter Alarmismus vorgeworfen“, sagt Schwertner. „Aber wir reden von 201.000 Menschen, die stark von Armut betroffen sind. Wir reden von leeren Kühlschränken und kalten Wohnungen.“
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