Neue Armut: Wenn das Geld plötzlich nicht mehr reicht
Es war eine Energiekostennachzahlung von 329 Euro, wegen der eine Mutter weinend bei der Caritas anrief. Sie konnte das Geld nicht aufbringen. Eine andere Frau musste eine Holztruhe zerkleinern, um heizen zu können. Und ein Senior brach in der Beratungsstelle zusammen, da er sich seine Medikamente nicht mehr leisten konnte.
Das sind nur ein paar der Beispiele, die Doris Anzengruber, Leiterin der Sozialberatungsstelle der Caritas Wien, erzählen kann. Was man schon länger ahnt, zeigt sich an ihrem Arbeitsplatz jeden Tag: Aufgrund der Teuerung sind die Kosten für das tägliche Leben mittlerweile so hoch, dass viele Menschen sie nicht mehr stemmen können.
Das bestätigt auch Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie und Mitbegründer der Armutskonferenz: „Anfang 2023 wurde es deutlich merkbar, da nun Energie- und Wohnkosten schlagend werden.“
Wartelisten lang wie noch nie
Und es trifft immer breitere Schichten der Bevölkerung: Trotz neuer Mitarbeiter seien die Wartelisten bei der Sozialberatung so lang wie noch nie. „Es spitzt sich immer mehr zu“, beschreibt Anzengruber.
Die Armutskonferenz schlägt etwa eine Energiegrundsicherung vor, also die Zusicherung einer bestimmten kostenlosen Menge Energie für jeden Haushalt. „Vor allem müsste man die Themen Mieten und Wohnen angehen“, ist Schenk überzeugt. Es gelte, das Abrutschen der Mittelschicht in die Armut zu verhindern. Schenk wie Klaus Schwertner, Wiener Caritas-Direktor, plädieren außerdem für eine Reform der Sozialhilfe und für eine Valorisierung von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe.
„Auch wenn man erfolgreich ist – es kann jeden treffen“
Wer über Armut berichtet, weiß, dass Interviewpartner ungern ihren Namen nennen. Astrid Esterle aber betont, dass sie nicht anonym bleiben möchte. „Weil mir wichtig ist, dass transportiert wird, dass es jeden treffen kann. Dass es Dinge gibt, die man nicht beeinflussen kann. Auch wenn man gut ausgebildet und erfolgreich ist.“
Esterle war als Selbstständige im Medizinprodukte-Großhandel tätig. Hatte ein gutes Einkommen, konnte schön wohnen und die Welt bereisen. Als ihre schwerbehinderte Tochter zur Welt kam, musste sie beruflich zurückstecken, Geldsorgen hatte sie aber nach wie vor keine. „Ich war mir bewusst, dass ich privilegiert war“, erzählt die Wienerin. Und: „Hätte ich meinem jüngeren Ich gesagt, dass ich einmal meine Wasserrechnung nicht bezahlen werde können, hätte ich das nicht geglaubt.“
Doch 2018 musste Esterle zwei Schicksalsschläge verkraften: Zuerst verstarb ihr 51-jähriger Ehemann überraschend, drei Monate später wurde bei ihr ein Gehirntumor diagnostiziert. Die heikle Operation ist gut verlaufen, sie hat sich davon verhältnismäßig gut erholt. Infolge der Erkrankung und der Operation muss sie jedoch Medikamente gegen Epilepsie nehmen, generell sollte sie größere Anstrengungen meiden. Außerdem ist Esterle nun Alleinerzieherin einer schwerbehinderten Tochter.
Da sie als Selbstständige keine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen hatte, lebt sie derzeit von Notstandshilfe und Pflegegeld für die Tochter. „Früher habe ich nie Rabattmarken gesammelt oder genau auf die Preise geschaut“, erzählt sie. „Aber wenn es jetzt Waschmittel oder Windeln für die Tochter in Aktion gibt, bin ich schon dort“, fügt sie hinzu und lacht.
Esterle engagiert sich, so weit es ihre Gesundheit zulässt, ehrenamtlich, unter anderem für bessere Lebensbedingungen für Behinderte. Und sie nahm an einer Studie zu Armut in Österreich teil (siehe Faktenbox unten), da sie auf die Problematik aufmerksam machen möchte. „Das Problem ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, sagt sie. An der Basis gebe es viele Politiker, die sich wirklich für die Menschen einsetzen. „Aber an der Parteispitze darf das bezweifelt werden. Die sitzen in ihrem Elfenbeinturm und haben den Kontakt zu den Menschen verloren.“
„Wie eine Trennwand zwischen Politikern und Bevölkerung“
Was ist eigentlich „Armut“? Auf die Frage kommt Manfred Neugebauer im Gespräch mit dem KURIER immer wieder zurück. Zu einem guten Leben brauche es ja nicht so viel, sagt er. „Eine Wohnung, ab und zu ins Kino oder Essen gehen, ein bisschen was sparen: Das sollte möglich sein – und das ist es jetzt oft nicht mehr.“
Er selbst komme noch über die Runden, auch dank des Einkommens seiner Frau, „aber die Luft ist dünn“. Neugebauer ist selbstständig, hat eine kleine Filmproduktionsfirma, und schon während Corona brachen die Aufträge ein. Egal ob Strom, Wasser oder Benzin, alles sei deutlich teurer. „Früher waren meine Frau und ich gerne im Kino oder wir sind essen gegangen. Das geht jetzt nicht mehr“, erzählt der 61-jährige Niederösterreicher.
Wie Esterle ist auch Neugebauer einer der Teilnehmer der aktuellen Studie über Armut in Österreich (siehe unten). Weil auch er darauf aufmerksam machen möchte, dass das Leben für immer mehr Menschen im Land immer schwieriger wird. „Man findet kein Gehör mehr bei der Politik“, sagt er. „Es ist fast, als gäbe es eine Trennwand zwischen den Politikern und der Bevölkerung. Es gibt keine Kommunikation mehr.“
Er plädiert daher für mehr direkte Demokratie: „Abgeordnete könnten sich doch mit Menschen aus der Bevölkerung zusammensetzen und sich deren Ideen anhören. Damit sie hören, wie es den Leuten geht und was sie brauchen. Das ist leicht zu organisieren und kostet nix.“ Oder man könnte die Mehrwertsteuer auf gewisse Lebensmittel aussetzen, wie das die Regierung Portugals ankündigte. Jedenfalls müsse rasch gehandelt werden, ist Neugebauer überzeugt. „Wichtig ist doch, dass der soziale Friede nicht kippt.“
„Alles kostet doppelt oder sogar viermal so viel“
Sparsam, erzählt Frau R., sei sie als Mindestpensionistin immer gewesen. „Aber ich bin immer durchgekommen.“ Ihren Namen möchte sie nicht nennen, und doch freut sie sich, dass ihr jemand zuhört.
Beim Gespräch mit dem KURIER sitzt sie in ihrer ungeheizten Wohnung im südlichen Niederösterreich. Aufgrund der hohen Nachfrage stiegen die Holzpreise im Vorjahr empfindlich. Das traf auch Frau R., die mit Holz heizt. Jahrelang hatte sie bei einem Bauern aus der Region Holz gekauft. „Früher habe ich 90 Euro dafür bezahlt“, erzählt sie. Plötzlich waren es 180 Euro – für sie nicht möglich. Daher blieb die Wohnung kalt.
1,3 Mio. Menschen waren 2021 (also vor der Teuerung) in Österreich armutsgefährdet. Die Zahl dürfte nun steigen
56 Prozent mehr Menschen suchten 2022 Hilfe bei der Sozialberatung der Wiener Caritas als 2021
71 Sozialberatungsstellen bietet die Caritas in Österreich. Die Warteschlangen sind so lang wie noch nie
Neue Studie: Derzeit läuft die Studie „Teuerung: Armutsbetroffene und Geringverdienende. Erhebung zur sozialen Lage aus der Sicht von Betroffenen“. Studienautoren sind die Armutskonferenz und die Wirtschaftsuniversität Wien. Die Ergebnisse werden im Juni feststehen
3 Posten sind von der Inflation am stärksten betroffen: Wohnen, Energie und Lebensmittel – Kosten, die also jeden betreffen
Armutsstatistik: Auch die Statistik belegt, dass immer breitere Schichten betroffen sind. Hier wird oft mit Dezilen gearbeitet: Teilt man die Einkommensverteilung in einem Land in zehn gleich große Teile, spricht man von Dezilen. Laut Armutskonferenz suchten früher v. a. die einkommensschwächsten zwei Dezile Hilfe. Mittlerweile auch Menschen aus den Dezilen drei und vier
Als vor Weihnachten noch eine Stromrechnung kam, die sie nicht bezahlen konnte, meldete sie sich erstmals bei der Caritas. „Die haben mich dabei unterstützt. Das war wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag auf einmal.“
Beim Einkaufen kommt es auf jeden Euro an: Milch, Nudeln, Kohlgemüse oder Erdäpfel kauft sie meistens. Oder auch Linsen in Dosen. „Wenn man nicht viel Geld hat, kann man nicht Bio kaufen und auf die Gesundheit schauen“, sagt sie. Freilich verstehe sie, dass höhere Produktionskosten für höhere Preise sorgen – aber nicht in dem Ausmaß, wie es derzeit in den Supermärkten spürbar sei. „Alles kostet doppelt oder sogar viermal so viel. Warum ist zum Beispiel Spülmittel doppelt so teuer? Das wird in riesigen Mengen produziert und Firmen haben doch auch Unterstzütungen bekommen“, sagt sie.
Wählen will sie vorläufig nicht mehr gehen: „Ich fühle mich im Stich gelassen.“
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