Schweres Los: Die Krise befeuert die Obdachlosigkeit
Eine Matratze samt Leintuch, Decken, ein Schlafsack. Im Wartehäuschen bei der Endstation Karlsplatz der Buslinie 4A hat jemand sein Lager aufgeschlagen.
Jemand, der derzeit kein Zuhause hat.
Nach zwei Jahren Pandemie, in denen nicht nur die Mobilität von Reisenden stark eingeschränkt war, fallen obdachlose Menschen und Bettler im öffentlichen Raum wieder mehr auf.
Der Fonds Soziales Wien, der für die Stadt Wien gemeinsam mit Organisationen Angebote in den Bereichen Wohnungslosenhilfe, Pflege, Behindertenbetreuung bereitstellt und koordiniert, hat deshalb vorsorglich die Zahl der Notschlafplätze für diesen Winter erhöht: von 900 im Vorjahr auf 1.000. Weil noch nicht abschätzbar ist, wie sich dieser erste Winter ohne Lockdowns auf die Zahl jener, die auf ein Notquartier angewiesen sind, niederschlagen wird, will man lieber besser vorbereitet sein als schlechter.
Das Winterpaket
Seit 2009 gibt es das Wiener Winterpaket. Es ist eine Nothilfe für Obdachlose, egal woher sie kommen oder ob sie in Österreich Anspruch auf Sozialleistungen haben. "Niemand soll auf Wiens Straßen erfrieren", lautet das Credo. Das ist einzigartig in nächster europäischer Nachbarschaft. Wien schafft diese Plätze gemeinsam mit Sozialeinrichtungen (Caritas, Samariterbund, Volkshilfe etc.).
Mittlerweile sind die Notquartiere 24 Stunden lang geöffnet – eine Folge aus den Anfängen der Pandemie, in der Menschen angehalten waren, das Haus nicht zu verlassen. Geöffnet werden die Notschlafstellen je nach Bedarf. Und jetzt, wo es so kalt geworden ist, steigt dieser: Derzeit sind die Winternotquartiere in Wien zu 86 Prozent ausgelastet.
Junge Männer
Aber wer sind die Menschen, die diese Art von Hilfe in Anspruch nehmen müssen? Salopp gesagt: Noch relativ junge Männer, hauptsächlich aus Österreich oder dem europäischen Osten. Im vergangenen Winter 2021/22 – das sind die aktuellsten vollständigen Zahlen – nahmen 2.642 Personen das Winterpaket in Anspruch, davon 486 Frauen. Das Medianalter der Frauen beträgt 35 Jahre, bei den Männern 37 Jahre.
Die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer ist pandemiebedingt zurückgegangen. Was sich auch zeigt: Österreicherinnen und Österreicher nehmen das Angebot am stärksten wahr, aber der Anteil der österreichischen Klienten im Winterpaket sinkt, während jener aus dem Ausland steigt (siehe Grafik).
Wien als Anlaufstelle
Das hat mehrere Gründe. Erstens: Das Winterpaket ist das niederschwelligste Angebot in der gesamten Winternothilfe. Jeder und jede kann es in Anspruch nehmen, die Nationalität ist unerheblich. Zweitens: Wien ist die östlichste Stadt Westeuropas und generell Anlaufstelle für viele Menschen aus dem östlichen Ausland. „Viele, die herkommen, suchen Arbeit. Sie kommen ein paar Nächte privat unter und landen dann auf der Straße“, sagt Manuel Dewam, Leiter der Sozial- und Rückkehrberatung der Caritas Wien.
Die meisten seiner Klientinnen und Klienten kommen aus sehr ärmlichen Gegenden, sagt Dewam. Dazu komme, dass die Bevölkerung in der Slowakei und in Ungarn feindseliger gegenüber Obdachlosen eingestellt sei als hier. „Viele unserer Klienten sagen, sie sind im öffentlichen Raum hier weniger Attacken ausgesetzt.“
Zeitversetzt sichtbar
Manche kommen auch, um den Winter hier zu verbringen, etwa weil sie zwar in ihrem Herkunftsland eine Unterkunft haben, aber zu arm sind, um diese zu heizen. Aber das seien wenige im Vergleich zu den Arbeitsmigranten. „Wenn es aus unserer Sicht keine Möglichkeit auf Integration gibt, sprechen wir offensiv die Rückreise an“, sagt Dewam. 350 Heimreisen hat die Caritas von Anfang Jänner bis Anfang Dezember dieses Jahres unterstützt, 100 davon in die Slowakei.
Ob die Zahl der Obdachlosen durch Teuerung, Inflation und Energiekrise bereits gestiegen ist, lässt sich noch nicht sagen: „Obdachlosigkeit steigt meist zeitversetzt“, sagt der Wiener Caritas-Direktor Klaus Schwertner.
Kältetelefon
Über die Kältetelefone der Caritas können Schlafplätze von Obdachlosen gemeldet werden. Die Streetworker halten dann Nachschau.
Wien: 01/480 45 53 (0-24 Uhr)
Eisenstadt: 0676/837 303 22 (8-22 Uhr)
Steiermark: 0676/880 15 8111 (18-24 Uhr)
Kärnten: 0463/39 60 60 (18-6 Uhr)
Salzburg: 0676/848 210 651 (0-24 Uhr)
Tirol: 0512/21 447 (0-24 Uhr)
Kälte-App
In Wien gibt es zusätzlich die Möglichkeit, Schlafplätze von Obdachlosen über eine App zu melden. Infos: kaelteapp.wien
Etwa 20.000 Menschen sind in Österreich derzeit wohnungslos. 148.000 leben in Wohnungen, die sie nicht angemessen heizen können. Und einige Hundert sind in Wien derzeit „akut obdachlos“, sagt Schwertner. Sie haben keine eigene Wohnung und finden auch nicht bei Freunden Unterschlupf.
Hohe Nachzahlungen
Das, was der Obdachlosigkeit vorgelagert ist (der Bedarf an Hilfsleistungen), gibt jedenfalls Anlass zur Besorgnis. Von Jänner bis Juli dieses Jahres fragten um 56 Prozent mehr Menschen um Hilfe in der Sozialberatungsstelle der Wiener Caritas an als noch im Vorjahr. Ein Negativtrend, der sich auch in anderen Bundesländern zeigt, heißt es. Die meisten Anfragen beziehen sich jetzt auf Mietrückstände, die hohen Kosten für Lebensmittel und – vor allem – auf „horrende Nachzahlungen für Strom und Gas“. Erstmals wenden sich Menschen an die Caritas, die mehr für Energie als für die Miete zahlen müssen.
Die Nachfrage nach den Le+O-Lebensmittelausgaben der Caritas (siehe Bericht unten) ist enorm gestiegen: 2021 wurden durchschnittlich 17 Tonnen Lebensmittel pro Woche ausgegeben, jetzt sind es 24 oder teils sogar mehr Tonnen pro Woche.
Mehr Delogierungen
Und: Auch die Zahl der Delogierungen aus Wiener Gemeindewohnungen ist gestiegen, wie aus einem Papier hervorgeht, das dem KURIER vorliegt: 1.094 Delogierungsanträge wurden 2021 gestellt, 1.433 waren es bis ins dritte Quartal dieses Jahres, 2.500 werden es bis Ende des Jahres sein – so die Prognose. Das ist mehr als eine Verdoppelung. Bei den bereits durchgeführten Delogierungen zeigt sich ein ähnliches Bild: 403 Delogierungen gingen 2021 vonstatten, heuer waren es bis ins dritte Quartal bereits 484. Laut Prognose sollen es bis Jahresende 700 sein. Das ist fast eine Verdoppelung.
Laut Wiener Wohnen gehen diese Delogierungen auf Mietzinsrückstände, Fälle von Nichtbenutzung, Untervermietung und unleidliches Verhalten zurück. Man sei stets bemüht, mit den Mieterinnen und Mietern Lösungen zu finden. "Unser Ziel ist es, Delogierungen möglichst zu vermeiden", sagt Stefan Hayden, Sprecher von Wiener Wohnen.
"Jetzt handeln"
Will Österreich Obdachlosigkeit verhindern, müsse jetzt gehandelt werden, sagt Caritas-Direktor Schwertner. Es brauche langfristige Hilfen, etwa eine Erhöhung der Sozialhilfe. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) kündigte zuletzt an, 50 Millionen Euro bereitzustellen, um drohende Delogierungen zu verhindern.
Nicht nur Klientinnen und Klienten kämpfen mit der Teuerung, auch die Sozialeinrichtungen selbst. Um 50 Euro konnte man bisher über die Caritas einer obdachlosen Person einen winterfesten Schlafsack und eine warme Mahlzeit spenden. Heuer kostet dieses Winterpaket erstmals 70 Euro (und beinhaltet sieben Mahlzeiten, Anm.). Die Stadt Wien stellt für die Sozialwirtschaft nächstes Jahr 155 Millionen Euro als Teuerungsausgleich bereit. Für heuer wurden zusätzlich 32 Millionen Euro gezahlt.
Kommentare