Gewalt gegen Obdachlose: Worüber niemand spricht
4 Uhr morgens auf der Mariahilfer Straße: Maskierte Jugendliche bleiben auf E-Rollern vor Schlafplätzen einer Obdachlosen-Gruppe stehen. Sie treten sie und wollen ihnen Geld wegnehmen, ihnen vielleicht absichtlich weh tun. Eine bizarre, erschreckende Szene.
Passanten rufen die Polizei und werden dafür von den Jugendlichen bespuckt. Als die Polizei eintrifft, sind diese über alle Berge. „Die Obdachlosenfeindlichkeit steigt wieder in der Stadt“, sagt ein Grätzelpolizist zum KURIER. Aber gibt es dafür Beweise oder Zahlen?
In der Stadt sind unterschiedliche Akteure bei der Obdachlosenarbeit aktiv. Die Caritas, das Rote Kreuz und die Stadt haben auch Teams auf der Straße (Obdach Unterwegs, Sam) im Einsatz. Eine übergeordnete Stelle – etwa für Übergriffsmeldungen – gibt es nicht.
Obdach unterwegs
Die Straßensozialarbeiter*innen von „Obdach unterwegs“ sind täglich in Zweierteams unterwegs. Insgesamt sind es 20 Mitarbeiter*nnen. Der FSW (Fonds Soziales Wien) fördert zudem auch Einheiten der Caritas Wien und Sozialarbeit aus den meisten der neun Tageszentren, die in Wien verteilt sind. Ein Beispiel dafür wäre das Rote Kreuz Tageszentrum „Das Stern“ unweit des Pratersterns.
Psychosozialer Dienst:
82 Mitarbeiter*innen arbeiten für den PSD im öffentlichen Raum. Dazu gehören die sam-Teams, Streetwork und helpU.
Caritas
Insgesamt sind fünf Caritas-Streetworkteams im Einsatz: In der Gruft gibt es zwei Mal die Woche Tagesstreetwork. Nachtstreetwork findet Mittwochs, Freitags und Sonntags von 17 bis 1 Uhr statt. Außerdem organisieren sie Straßenarbeit am Hauptbahnhof (ganzjährig und täglich). Im Winter gibt es zusätzlich von November bis April Straßenarbeit und auch im Bereich der Wiener Linien von November bis März.
Fairplay Teams
Seit mehr als zehn Jahren sind die Fair-Play-Teams im Zweierteam im öffentlichen Raum unterwegs und suchen das Gespräch mit den Menschen im Grätzel. Sie regen zur fairen Nutzung des öffentlichen Raumes an, interessieren sich für die Bedürfnisse und Anliegen der Bürger*innen, unterstützen bei der Bewältigung von Konflikten und vermitteln auch bei Bedarf. Ein wichtiges Anliegen der Teams ist es, Alltagsrassismen und Vorurteile aufzugreifen, zu thematisieren und ihnen entgegenzuwirken. Derzeit sind 50 Mitarbeiter*innen in den Bezirken 2, 3, 5, 6, 10 bis 12, 14 bis 18, 20, 22 und 23 unterwegs.
Awareness Teams
Mit dem Projekt „Awareness im öffentlichen Raum“ wurde erstmalig ein mobiles Angebot für nächtliche Feierkultur im öffentlichen Raum 2021 umgesetzt. Vorgesehen ist die Aktivität der Teams im öffentlichen Raum seit Juni bis Mitte September: an Freitagen und Samstagen sowie vor Feiertagen im Zeitraum, von 19 bis 4 Uhr früh. Insgesamt sind es vier Teams zu je vier Personen: Team Karlsplatz und Resselpark; Team Donaukanal; Außerdem findet man die Teams im Stadtpark, Heldenplatz, zwischen den Museen sowie im Bedarfsfall Votivpark, Yppenplatz und Umgebung.
Wiener Parkbetreuung
Seit Mitte Mai sind wieder 300 geschulte Mitarbeiter*innen in den Parkanlagen in allen Bezirken unterwegs. In 180 Parks sowie in Jugendsport- und Wohnhausanlagen laden sie Jugendliche und Kinder ab 6 Jahren zu Spiel, Spaß und sportlicher Betätigung ein.
Nein, heißt es aus der Polizei-Pressestelle. In der Kriminalstatistik gebe es keine Info über das „Milieu“ der Opfer. (Erst nach Veröffentlichung dieses Artikels, wurde vom Innenministerium nochmals klargestellt, dass seit 2020 eine Zahl zu den Vorurteilsmotiven im Hate-Crime-Bericht zu finden ist). Bei anderen offiziellen Stellen will man nichts von steigender Gewalt gegen Obdachlose wissen. Fakt ist, dass vor zwei Monaten ein ungarischer 46-jähriger Obdachloser tot in einem Park im 7. Bezirk gefunden wurde. Von den Tätern fehlt jede Spur.
Wenn auch die Straftaten gegen Obdachlose nicht in der Kriminalstatistik der Stadt aufscheinen, so gibt es seit zwei Jahren den Bericht zu sogenannten "Hate-Crimes".
Hier wird Hass-Kriminalität aufgezeichnet, indem ein sogenanntes Vorurteilsmotiv bei den Straftaten vermerkt wird, lässt das Innenministerium wissen.
Die Polizei sei "bei fast allen Vorurteilsstraftaten verpflichtet, zu ermitteln, ob ein solches Vorurteilsmotiv gegen eine straf- und menschenrechtlich geschützte soziale Gruppe (Hautfarbe, Geschlecht etc.) vorliegt oder nicht", hießt es. Es können bei der Aufnahme kein, ein oder mehrere Vorurteilsmotive ausgewählt werden, wobei die meisten auch näher spezifiziert werden müssen („Sozialer Status“ muss mit „Wohnungslose“ oder „Andere“ verknüpft werden). Diese Aufgabe ist spätestens bis zur Übermittlung des Abschlussberichts der Anzeige an die Staatsanwaltschaft zu erledigen. Auch bei polizeilichen Einvernahmen muss dieser Aspekt erklärt und insbesondere seitens der Polizei geprüft werden, ob der Status „besondere Schutzbedürftigkeit“ des Opfers vorliegt (§ 66a StPO), der mit Sonderrechten im Verfahren verbunden ist.
Die Auswahlkombination „Sozialer Status“ + „Wohnungslose“ ist für Hate Crimes gegen Obdachlose gedacht. 26 Vorurteilsmotive gegen Wohnungslose wurden in ganz Österreich im Kalenderjahr 2021 gezählt. Laut Statistik konnten 65,4 Prozent der angezeigten Straftaten aufgeklärt werden, 19 Tatverdächtige und 13 obdachlose Opfer von Gewaltstraftaten wurden dabei gezählt (s. Tabelle 4 im Jahresbericht 2021). In Wien wurden 49 Vorurteilsmotive zu „Sozialen Status“ 2021 erfasst, wobei jedoch nicht zwischen den Auswahlmöglichkeiten „Andere“ und „Wohnungslose“ für die Berichtsauswertung unterschieden wurde (s. Tabelle 6).
Gewalttaten gegen Obdachlose werden nicht als solche offiziell differenziert, oft nicht aufgeklärt. Auf eine parlamentarische Anfrage vor zwei Jahren, warum es dazu keine Statistik gebe, hieß es, dass lediglich Alter, Geschlecht, Nationalität, Aufenthaltsstatus (bei Fremden) bei Opfern vermerkt werde. In Deutschland werden die Straftaten hingegen vermerkt. 2021 wurden dort mindestens 16 Obdachlose getötet. In Österreich gibt es jedoch seit 2020 den sogenannten Hate-Crime Bericht. (siehe Faktenbox)
Sozialdarwinistische Motive
Bei vielen Gewalttaten gegen Wohnungslose spielen „sozialdarwinistische“ Motive eine Rolle, also eine menschenverachtende Perspektive auf Randgruppen der Gesellschaft und sozial Schwächere, heißt es in der Fachliteratur. Es ist ein Merkmal politisch rechtsradikal motivierter Kriminalität. Obdachlose wurden in Deutschland in der Vergangenheit auch angezündet, während sie schliefen.
Einfaches Opfer
„Obdachlose fehlen niemanden, sie gehen nicht zur Polizei. Wenn man einen Trieb hat, Menschen zu verletzen, sind Obdachlose eben ein einfaches Opfer“, sagt Martin K. dazu. Der 38-Jährige lebte als Jugendlicher auf der Straße. Heute bietet er „Nimmerland“-Führungen vom Karlsplatz bis zum Esterhazypark an. Er spricht von den Gefahren der Straße und vom Entzugssystem. „Als jugendlicher Obdachloser suchst du geheime Schlafplätze, die Gefahr, missbraucht zu werden ist groß“, sagt er. Beschimpfungen gehören zum Alltag.
Mit Essen beworfen
Oft wurde er mit Essen beworfen. Man sei wie Dreck für andere, soziale Netzwerke verstärken das Diskriminierungsphänomen. Einmal sei ein anderer Obdachloser in einen Mistkübel gestopft worden. „Ein betrunkener Mann nahm den Obdachlosen einfach hoch und stopfte ihn hinein“, sagt er. Daher suchen sich viele Beschützer oder Hunde.
Keine Lobby
Das bestätigt auch Kurt Gutlederer von der Wiener Wohnungslosenhilfe (Fonds Soziales Wien). "Die Odbachlosen haben keine Lobby", sagt er. Die Feindlichkeit sei absolut nichts neues, eher ein Tabuthema. Die Menschen auf der Straße seien diesen Gefahren ausgesetzt, daher suchen sie sich oft beleuchtete Schlafplätze, wie ein Platz vor dem Schaufenster oder belebte Gegenden, wie die Innenstadt oder den Bahnhof.
„Schon früher wollte man die Armut nicht sehen“, sagt Stadtpsychologin Cornelia Ehmayer-Rosinak. „Noch heute findet man in noblen Altbauhäusern die alten Betteln-verboten-Schilder“, sagt sie. Diejenigen, die Gewalt ausüben und diskriminieren, seien oft Gruppen, die selbst Gewalt erlebt hätten, erklärt Ehmayer-Rosinak. Und so was nehme in Zeiten der Krisen, der Teuerung, Corona und Krieg zu. Die Gesellschaft radikalisiere sich ihrer Meinung nach, das sei im öffentlichen Raum sichtbar.
Die Stadt arbeitet mit sozialarbeiterischen Maßnahmen (Mobile Soziale Arbeit, FairPlay-Teams) dagegen.
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