Noch hat der Weg nach Rothneusiedl etwas von einem Abenteuerausflug. Wo man künftig mit der U1 bequem in 15 Minuten vom Stephansplatz hinkommen soll, führt der Weg derzeit noch entlang der Himberger Straße, vorbei an der Stadtrand-typischen Mischung aus Einfamilienhäusern, Wohnbauten, Autohändlern und Lokalen mit klingenden Namen wie "Lederhosn Stadl Bar" oder "Tanz & Partystadl Cabrio".
Wenig später liegt es dann aber vor einem: das Land der Äcker. Bis zum Horizont erstreckt sich die Scholle. Noch. Denn in wenigen Jahren soll sich hier eine der größten Baustellen Wiens erstrecken (der KURIER berichtete).
Widerstand gegen Bodenversiegelung
124 Hektar zwischen S1 und Bestandsstadt sollen sich in zehn Jahren in Wohn-, Arbeits- und Freizeitmöglichkeiten für 21.000 Menschen verwandelt haben. Sprich: Größtenteils versiegelt werden. Und das stößt wenig überraschend auf Widerstand.
"Während der Pandemie hat die Stadt gesagt, wir brauchen lokale Lebensmittel. Noch lokaler als von hier gibt es aber nicht", sagt Brigitte Wagner von der Bürgerinitiative "Stop Megacity Rothneusiedl". "Damit widerspricht sich die Stadt doch selbst."
Die spricht hingegen von einem "Klima-Pionierquartier": Energieeffizienz und Klimaresilienz sollen die Leitlinien sein, 40 Hektar Grünflächen erhalten werden und auch Stadtlandwirtschaft ihren Platz finden. Wagners Unverständnis mildert das nicht. "Die Stadt verkauft das als großes Ökoprojekt", sagt sie. "Aber wenn ich zwei Drittel Ackerflächen vernichte und ein Drittel erhalte, was ist daran öko?" Sie fordert, dass erst in der Kernstadt nachverdichtet wird.
Wer hat also recht? Die Stadt, die in einem durch S1 und künftig auch U1 gut erschlossenen Gebiet leistbaren Wohnraum errichten will? Oder die Projektgegner, die die in Österreich ohnehin problematisch hohe Bodenversiegelung kritisieren?
Klassischer Zielkonflikt
Beide, sagt Raumplanungs-Professor Gernot Stöglehner von der Universität für Bodenkultur. "Wenn die Stadt schon meint, wachsen zu müssen, dann kann das zu einem Lehrbuchbeispiel für Städtebau werden." Gleichzeitig sei evident, dass Österreich viel zu viele Böden versiegle. "Seit 2001 haben wir Wien sechsmal gebaut", sagt er.
Die Möglichkeiten der Nachverdichtung in Wien seien jedoch ausgeschöpft. Bereits jetzt gebe es eine "massive Unterversorgung" mit innerstädtischen Grünflächen, etwa entlang des Gürtels. Die aufgrund der Klimakrise häufiger werdenden Hitzetage steigern den Druck auf die vorhandenen zusätzlich.
Stöglehner plädiert darum dafür, die Stadt größer zu denken. Im suburbanen Raum, also etwa innerhalb einer Öffi-Fahrstunde von Türe zu Türe, gebe es noch viel Potenzial für Nachverdichtung auf bestehendem Bauland. Das würde Böden schonen, die Stadt entlasten und käme zudem den oft ausgestorbenen Ortskernen im Umland zugute.
Rettung und Utopie
Für Rothneusiedl kommen diese Ideen zu spät, das weiß auch Andreas Gugumuck. Der Unternehmer züchtet am Rand des Projektgebiets Schnecken und war Initiator des "Zukunftshofs" gleich gegenüber.
Auf einem alten Bauernhof hat er mit Gleichgesinnten eine Art Thinktank an der Schnittstelle von solidarischer Stadtentwicklung und nachhaltiger Lebensmittelproduktion hochgezogen und damit längst die Aufmerksamkeit der Stadt auf sich gezogen.
Das von ihm verfolgte Konzept der "essbaren Stadt" findet sich prominent in den Unterlagen zu Rothneusiedl, zudem soll der Zukunftshof offizielle Anlaufstation für das Projekt sein (siehe Infobox unten).
Rothneusiedl-Open-Air
Freitag (ab 17 Uhr) und Samstag (ab 11 Uhr) wird am Zukunftshof über das Projekt informiert. Auch Führungen werden angeboten.
Gegendemonstration
Projektgegner haben für Freitag, 17 Uhr, zur Demonstration „Stoppen wir den Bauwahnsinn“ vor dem Zukunftshof aufgerufen.
Auch Gugumuck gefällt die großflächige Versiegelung nicht, "aber dass das Ackerland bleibt, ist ja unrealistisch". Daher versucht er, zu retten, was zu retten ist – und zugleich in Richtung Utopie zu gehen. "Hier können wir die Tradition der Selbstversorgung ins dritte Jahrtausend mitnehmen und Wien wieder zu einer weltweiten Referenzstadt machen", sagt er – so wie vor 100 Jahren durch den sozialen Wohnbau.
Das Dorf in der Stadt
Schaugärten, Vertical Farming – die Ideen sprudeln nur so aus Gugumuck hervor. Vor allem geht es aber auch um Selbstermächtigung: "Wir wollen zeigen, wie Selbstversorgung in der Stadt funktionieren und auch eine starke soziale Ausprägung haben kann" – indem über die gemeinsame Bewirtschaftung eine Art Dorfleben im Grätzel abgebildet wird.
Um den Zukunftshof und in weiterer Folge ganz Rothneusiedl als „Reallabor“ zu erhalten und auszubauen, wünscht sich Gugumuck aber noch mehr Commitment der Stadt. Über kurz oder lang werde es nicht mehr ausreichen, nur den Zukunftshof zu unterstützen; vielmehr müsse die Stadt die Letztverantwortung für die "essbare Stadt" übernehmen – nicht nur, aber auch finanziell.
Nur so könne es gelingen, "eine Generation von unmündigen Stadtkonsumenten zu mündigen Stadtproduzenten zu machen", sagt Gugumuck – und zu "zeigen, dass es anders gehen kann".
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