„Für mich“, eröffnet Polina, „ist dieser Krieg ein Horror. Selbstverständlich leide ich mit den Menschen in der Ukraine, auch mit jedem Soldaten, der sterben muss.“ Doch sei dieses Leiden „nicht mit dem Leiden jener vergleichbar, die in diesem Krieg alles verloren haben“.
Man schätzt, dass bereits eine Million Menschen aus Russland geflüchtet ist, unter ihnen viele, weil sie Putins Krieg gegen die Ukraine nicht mittragen wollen, junge Männer nicht zuletzt, weil sie nicht an der Front kämpfen wollen.
Wer zwei Russinnen und einen Russen in Wien trifft, darf sich nun nicht einbilden, dieser Million gerecht zu werden. Immerhin lernt man ganz andere Sichtweisen kennen.
Polina, die in den USA und in Deutschland studiert hat, war 2012, als das noch möglich war, mit Zehntausenden in Russland auf der Straße, um gegen die unfairen Wahlen zu protestieren. Umso mehr schmerzt es sie heute, dass der Krieg gegen die Ukraine auch in ihrem Namen geführt wird.
„Nicht töten und stehlen“
Ganz ähnlich sieht das die top ausgebildete Journalistin Ana, die nach extrem langer Jobsuche in Wien an der Rezeption eines Innenstadthotels arbeitet. „Wir alle haben das schon im Kindergarten gehört: Nicht töten, nicht stehlen und anderen Menschen verzeihen.“
Auch Ana kam bereits vor dem Krieg nach Österreich: „Ich habe ein Jahr ehrenamtlich in einer Caritas-Einrichtung gearbeitet, auch, um mein Deutsch zu verbessern.“
"War für mich, als hätte ich ein Kind verloren"
Die Akademikerin war Chefredakteurin einer Internet-Plattform, die Dokus zu Kunst und Geschichte erstellte, als die ersten Bomben von Russland auf die Ukraine abgefeuert wurden. Wenige Tage später hat man ihr zu verstehen gegeben, dass sie als Auslandsrussin nicht mehr Chefredakteurin ist: „Das war für mich nach neun Jahren in dem Unternehmen, als hätte ich ein Kind verloren.“
Wenig erbaulich waren auch Anas Erfahrungen auf dem österreichischen Arbeitsmarkt: „Wo immer ich gesagt habe, dass ich Russin bin, ging sofort die Tür zu.“ Speziell in der Wiener Kulturszene gab es kein Verständnis für die an sich liberal denkende Journalistin.
Besonders in Erinnerung ist ihr das Schreiben einer allseits bekannten heimischen Lebensmittel-Kette, bei der sie sich als Kassiererin beworben hat. Sie zitiert die unmissverständliche Absage: „Nach der tiefen Analyse Ihres Lebenslaufs sind wir zu der Entscheidung gelangt ...“
„Dort fühl man sich nicht willkommen“
Einen besseren Job hat der Produktmanager David gefunden, auch wenn er in dem seriösen österreichischen Unternehmen im direkten Vergleich deutlich weniger verdient als seine Berufskollegen in Moskau.
Gleichzeitig ortet er in Wien deutlich mehr Respekt für ihn als Russen als in den südöstlichen Nachbarländern Russlands, wohin viele Russen und Russinnen nach Beginn des Krieges geflüchtet sind: „Dort fühlt man sich als Russe nicht willkommen.“
Es hat einen Grund, warum in diesem Bericht nur die Vornamen genannt werden. Es ist auch im Ausland für jene gefährlich geworden, die Putins „militärische Spezialoperation“ beim Namen nennen.
Polina sagt es offen: „Ich hätte heute kein gutes Gefühl, müsste ich die russische Botschaft in Wien betreten.“
„Keiner will an die Front“
David erinnert sich: „Als ich im Sommer 2022 meine Eltern in Russland besucht habe, bekam ich vielleicht nicht ganz zufällig einen Anruf. Eine Mitarbeiterin des Militärs stellte sich kurz vor und fragte mich, ob ich nicht für maximal zwei Wochen in die Ukraine fahren möchte, um dort zu kämpfen.“
Mit extrem mulmigen Gefühlen flog der junge Mann zurück nach Wien. Seither hat er seine Eltern nicht mehr gesehen. Und seine Freunde leben verstreut über den Planeten: „Keiner will an die Front.“
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