Wenn es Nacht wird in Wien: Was Obdachlose fürchten
Drei Attacken auf schlafende Menschen sorgen unter den Armen der Stadt für Angst, Wut, aber auch ein bisschen Solidarität. Der KURIER sprach mit ihnen.
Sie steigen mit ihren Schuhen in den Schlafsack, zippen den Sack nicht bis oben hin zu. Um schneller flüchten zu können. Nur eine von vielen Beobachtungen in einer dieser Tropennächte im August. Wo man in der extrem heißen Dunkelheit auch hinkommt, überall sind die Morde an den schlafenden Obdachlosen ein Thema. Menschen, die sonst nur selten interviewt werden, geben bereitwillig Auskunft.
Die Gewaltserie, die am 12. Juli unmittelbar neben der Donau begonnen hat, hat Spuren hinterlassen. Das weiß auch Susanne Peter, die seit gut dreißig Jahren für die Caritas im Einsatz ist. Die Sozialarbeiterin hat in Wiener Nächten unzählige Menschen auf der Straße kennengelernt und betreut, viele auf ihrem letzten Weg begleitet. Weil das Leben dort draußen auch ohne Mörder zuerst krank macht und am Ende tötet.
„Ich habe in all den Jahren viel gesehen“, erzählt Susanne Peter, während sie den auch im Sommer eingesetzten „Kältebus“ kurz vor Mitternacht über die Donauinsel lenkt. „Aber so eine Stimmung wie in diesen Nächten habe ich noch nie erlebt.“
Die Streetworkerin bringt wenig aus der Fassung. En passant erzählt sie von einer Obdachlosen, die ihr erst am Vorabend eröffnet hat: „Eigentlich halte ich andere nicht aus, aber jetzt schlafe auch ich in der Gruppe.“
Jan, 33, wohnt schon seit viereinhalb Jahren „auf der Insel“. Er sagt, dass er ebenso lang Arbeit sucht, aber keinen Job finden kann. Ein Teufelskreis: Ohne Meldezettel kein Job, ohne Job kein Meldezettel.
Und ohne jeglichen Zugang zu aktuellen Informationen ist er auch akut gefährdet: „Echt jetzt, ein Mörder ist unter uns?“ Jan verharrt kurz. Blickt in die Nacht. Dann verspricht er, andere, die er gut kennt, ebenfalls zu warnen.
Ralph, 53, ist vor sechs Jahren der Liebe wegen nach Wien gezogen. Wie viele sorgt auch er sich um seine Freunde, die lieber in der Nähe der großen Wiener Bahnhöfe die Nächte hinter sich bringen wollen. Sein erster Weg vor dem Kaffee in der Früh führt ihn daher immer zu ihnen: „Um zu sehen, ob sie noch am Leben sind.“
Jan, Ralph, alle interessiert, ob die Polizei schon eine konkrete Spur verfolgt. Aber die Polizei tappt weiterhin im Dunklen, bittet daher die Bevölkerung um Hinweise. Man darf auch auf Hinweise der Wohnungslosen zählen. Alle im Milieu haben derzeit nur einen Wunsch. Ralph sagt: „Dass diese böse Serie endet.“
Beim Fonds Soziales Wien hat man auf die Morde reagiert und das Angebot an Notschlafstellen ausgeweitet. In der Nacht auf Donnerstag wurde in Favoriten ein Quartier extra für Frauen eröffnet. Außerdem hält das traditionsreiche Tageszentrum neben der U-Bahn-Station Josefstädter Straße nun auch nächtens offen.
Er wurde oft angespuckt
Vor 21 Uhr warten vor der „Dschosi“, wie sie mal liebevoll, mal verächtlich genannt wird, vierzig bis fünfzig Schutzsuchende auf Einlass. Die Stimmung ist wohl auch ob der 31 Grad Celsius auf dem Asphalt angespannt.
Hier wartet auch Bernhard Kircher, 40, ein gelernter Fleischhauer aus Melk. Er gibt gerne Auskunft. Sein Eindruck: „Die Leute sind sehr angefressen, frustriert, auch wütend. Es fließt derzeit auch deutlich mehr Alkohol.“
Das Leben auf der Straße, betont er, sei aber auch ohne Mordserie jeden Tag und jede Nacht „sehr anstrengend“.
Herr Kircher weiß, wovon er spricht: „Ich war elf Jahre lang auf der Straße, dann für eine kürzere Zeit bei einer Freundin. Seit vier Monaten bin ich erneut obdachlos.“ Er schläft auf der Donauinsel oder bei extremeren Temperaturen in einer U-Bahn-Station. Sein einziges Laster wären die Zigaretten. Die paar Euro für die Ration des nächsten Tages würde er noch gerne heute Abend vor dem Schlafengehen verdienen.
Das Geld beim Betteln sei schwer verdient, betont der gepflegt aussehende Mann: „Ich wurde öfters angespuckt. Es gibt auch Leute, die mir erklärt haben, dass ihnen so etwas nie passieren könnte.“
Jedes Mal sei das wie ein Schlag ins Gesicht: „Glauben Sie mir bitte, ich würde nichts lieber, als wieder bei einem Fleischhauer arbeiten und in eine eigene Wohnung ziehen.“
„Wegen nix“
Adam, 59, aus Poprad in der Slowakei, lebt schon seit zehn Jahren auf der Straße. Ihm würde die Polizei arg zusetzen, sagt er: „Endlich bist du einmal wo eingeschlafen, wecken sie dich auch schon wieder auf und schicken dich weg.“ Er schüttelt den Kopf: „Was haben sie davon?“
Die jüngsten brutalen Attacken auf wehrlose Menschen machen auch ihn betroffen: „Sie mussten sinnlos sterben, wegen nix.“
Die Sprache der Straße hält sich in der emotionalen Ausnahmesituation nicht an herkömmliche Konventionen. Einer der Umsitzenden tönt: „Würde ich den Wixer finden, ich würde ihm das Weiße aus den Augen stechen.“ Ein anderer fasst sich noch kürzer: „Würde er sich hier vor uns deklarieren, wäre er hin.“
Bevor es in Wien dunkel wird, fahren auch die Ehrenamtlichen mit dem Canisibus der Caritas los. Zum Beispiel zu einem Vorplatz vor dem Bahnhof in Meidling.
Ein Ehepaar macht betroffen. Es ist Beleg dafür, dass sich aufgrund der aktuellen Teuerungswelle nicht mehr nur klassisch Obdachlose um ein Abendessen anstellen. Es gibt auch solche, die sich noch die Miete, aber kein Essen mehr leisten können.
Ein Herr mit auffallend grüner Brille und rotem Hut, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, antwortet auf die Frage, ob er um sein Leben fürchte, mit einem Richard-Wagner-Zitat: „Unheil fürchtet, wer unhold ist. Ich fürchte mich nicht.“ Und nach einem Löffel Suppe fügt er hinzu: „Ich bin aber auch ein gläubiger Mensch.“
... der Polizei: Die Landespolizeidirektion Wien bittet weiterhin um Hinweise zu den drei Tatorten und Tatzeiten in Wien: 20., Handelskai 54 (12. Juli, 7.40 Uhr); 2., Venediger Au 10 (3.40 Uhr); 8., Hernalser Gürtel 22 (2 Uhr). Man hat dafür in der Vorwoche 10.000 Euro ausgelobt. Gerne telefonisch: 01 / 313 10 – 33 800.
... der Sozialarbeit: Neben der Stadt Wien gibt es mehrere Hilfsorganisationen, die obdachlosen Menschen helfen. Spenden erbeten an: das Neunerhaus, VinziRast, Diakonie und Caritas, Arge für Nichtsesshaftenhilfe Wien, Arbeiter-Samariter-Bund Wien, Wiener Hilfswerk.
12.370 Menschen in Wien werden von der Stadt Wien als Menschen „ohne Obdach“ geführt. Die Dunkelziffer dürfte laut Experten deutlich höher sein. Zwei Drittel der Betroffenen sind Männer.
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