Wenn Obdachlose einschlafen: "Schöne Träume sind jedoch selten“
Der Psychologe und Armutsforscher Martin Schenk hat gemeinsam mit fünf Studierenden der Fachhochschule Wien über einen längeren Zeitraum Wiener Obdachlose begleitet und interviewt. Schenk hat dabei speziell interessiert, wie sich der Schlaf auf der Straße auf die Gesundheit und das Gemüt der Betroffenen auswirkt. Die Studie wurde übrigens vor der aktuellen Mordserie erstellt.
KURIER: Was haben Ihnen denn die Obdachlosen bei der Befragung verraten, wie schlafen sie?
Martin Schenk: Wie nicht anders zu erwarten: Sie schlafen wenig, und sie schlafen nur sehr selten tief. Ein Grund dafür: Schlafen sie endlich ein, dann werden sie dauernd unterbrochen.
Was stört ihren Schlaf?
Die meisten der von den Studierenden Befragten haben sehr große Angst vor dem schutzlosen Schlaf. Sie fürchten sich, ausgeraubt, vertrieben, angestänkert oder bedroht zu werden. Sie berichten auch, dass sie während ihrer eh schon kurzen Schlafphasen weiterhin ein Auge und ein Ohr offen halten müssen, um dadurch eine mögliche Gefahr sofort erkennen zu können. In der Früh sind dann alle gerädert.
Welche gesundheitlichen Folgen hat dieser permanente Mangel an Schlaf?
Wir müssen davon ausgehen, dass auf Dauer das Immun- und auch das Herz-Kreislauf-System der Betroffenen massiv geschwächt wird. Wer wenig schläft, der hat auch weniger Kraft und weniger Konzentration.
Was stört die Befragten ganz allgemein?
Ein Streetworker erzählte uns, dass die Polizei an manchen Orten alle paar Stunden Ausweise kontrolliert. Oft werden dann die Aufgeweckten vertrieben. Und das Ganze verlagert sich nur einen Kilometer weiter. Eine Schikane, wie er sagt. Das Problem ist dann zwar von dem einen Platz weg, aber es hat sich nur verlagert. Auch dieses Dreiteilen der Bänke im öffentlichen Raum, damit ja niemand darauf schlafen kann, und das Verschwinden der Sitzgelegenheiten auf Bahnhöfen wird kritisiert.
Irgendwann muss doch jeder Mensch mal schlafen. Oder nicht?
Ja, selbstverständlich. Aus den genannten Gründen ziehen viele den Tag zum Schlafen vor. Weil es nicht geht, nicht zu schlafen. Es geht auch nicht, nicht zu träumen. Schöne Träume sind jedoch selten.
Warum wollen Obdachlose auch nach der Mordserie auf keinen Fall in einer Notschlafstelle übernachten?
Es gibt über die Einrichtungen laut unserer Befragung viele Klagen. Besonders die Frauen fühlen sich dort nicht sicher. Die Männer bemängeln wiederum die fehlende Autonomie und eine zu große Nähe anderer. Für sie bleibt dann wieder nur die unsichere Straße, die ihnen zwar ein höheres Maß an Selbstbestimmtheit bietet, aber auch die bereits aufgezählten Gefahren.
... der Polizei: Die Landespolizeidirektion Wien bittet weiterhin um Hinweise zu den drei Tatorten und Tatzeiten in Wien: 20., Handelskai 54 (12. Juli, 7.40 Uhr); 2., Venediger Au 10 (3.40 Uhr); 8., Hernalser Gürtel 22 (2 Uhr). Man hat dafür in der Vorwoche 10.000 Euro ausgelobt. Gerne telefonisch: 01 / 313 10 – 33 800.
... der Sozialarbeit: Neben der Stadt Wien gibt es mehrere Hilfsorganisationen, die obdachlosen Menschen helfen. Spenden erbeten an: das Neunerhaus, VinziRast, Diakonie und Caritas, Arge für Nichtsesshaftenhilfe Wien, Arbeiter-Samariter-Bund Wien, Wiener Hilfswerk.
12.370 Menschen in Wien werden von der Stadt Wien als Menschen „ohne Obdach“ geführt. Die Dunkelziffer dürfte laut Experten deutlich höher sein. Zwei Drittel der Betroffenen sind Männer.
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