Im Büro von Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) stehen viele Bücher. Dass er viele davon auch gelesen hat, hat der studierte Historiker im Interview mit dem KURIER über die Geschichte der Stadt unter Beweis gestellt. Entsponnen hat sich ein Gespräch über Antisemitismus, Bruno Kreiskys Nahost-Bemühungen und Österreichs Neutralität.
Und er hat verraten, was er gerne über sich selbst in einem zukünftigen Geschichtsbuch lesen würde.
KURIER:Inwiefern beeinflusst es die Arbeit als Politiker, wenn man sich intensiv mit der Geschichte auseinandergesetzt hat?
Michael Ludwig: Es ist immer ein großer Vorteil, zu wissen, wohin man will und woher man kommt – nicht nur aus Gründen der Reminiszenz, sondern damit man daraus Maßnahmen für die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft ableiten kann.
Welche Maßnahmen sind das zum Beispiel?
Wir legen etwa großen Wert auf die Erhaltung der historischen Bausubstanz. Wir sind mit Sicherheit die Stadt in Europa, die den höchsten Anteil an Gründerzeithäusern hat, die wir auch seit fast fünf Jahrzehnten mit großem finanziellen Aufwand erhalten und sanieren. Durch die sogenannte sanfte Stadterneuerung, die in den 1970er-Jahren begonnen worden ist, haben wir auch private Hauseigentümer dabei unterstützt, diese historische Bausubstanz zu erhalten.
Kultur, Literatur, Architektur: Wien ist in vielen Bereichen stolz auf seine Geschichte. Womit geben Sie an, wenn Sie international unterwegs sind?
Da muss ich gar nicht angeben. Egal, wo ich auftrete, wird Wien als Kulturstadt sehr geschätzt. Drei Viertel aller Touristinnen und Touristen, die nach Wien kommen, geben an, dass sie vor allem auch wegen Kunst und Kultur kommen. Das übt eine sehr hohe Anziehungskraft auf Menschen aus anderen Ländern aus. Wir wissen, dass die Marke Wien international oft noch stärker punktet als Österreich insgesamt.
Was sagen Sie zu der oft geäußerten Kritik, dass sich Wien auf den Lorbeeren der Vergangenheit ausruht und nicht genug in die Zukunft blickt?
Wir haben sehr viele Leistungen aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt – etwa beim Thema Wohnbau. Fast täglich kommen internationale Delegationen nach Wien und wundern sich, dass wir die lebenswerteste Stadt sind und trotzdem leistbaren Wohnraum für einen großen Teil der Bevölkerung anbieten können. Und wenn der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck auf die Frage, was ihm am besten in Österreich gefallen hat, sagt, dass er sich die Wärmepumpen in Simmering auch für deutsche Städte wünschen würde, dann ist das schon ein Zeichen dafür, dass wir im Bereich Innovation und Technologie beispielgebend wirken und beim Klimaschutz an den großen Schrauben drehen.
Wenn man an die Geschichte der Stadt denkt, ist der Ausdruck „Rotes Wien“ untrennbar damit verbunden. Was bedeutet dieser für Sie?
Dass wir viele Schwierigkeiten, die es in der Vergangenheit vor der Gründung der Ersten Republik gegeben hat, positiv politisch gestaltet haben. Während der Monarchie war die Wohnsituation in Wien besonders schlecht. Mehr als 90 Prozent der Wohnungen haben damals kein Wasser und kein WC gehabt. In manchen Häusern war es so, dass das Wasser in den Brunnen im Innenhof war. Das wirkt vielleicht romantisch, ist aber sehr problematisch. Das war weit bis in die erste Republik ein Riesenthema, bis das rote Wien mit einem großen Reformprogramm das moderne, neue Wien eingeläutet hat. So sind von 1923 bis zur Ausschaltung des Parlaments im März 1933 in Wien mit dem Bauprogramm 65.000 Gemeindewohnungen errichtet worden. Das ist damals international beachtet worden.
Man braucht nur die Leistungen, die die Sozialdemokratie im Laufe der Jahrzehnte für diese Stadt erbracht hat und jene Leistungen, die die FPÖ erbracht hat, gegenüberzustellen.
von Michael Ludwig
Bürgermeister
Warum?
Es war ein Gesamtkonzept dahinter, das sehr stark auf die sogenannte Daseinsvorsorge fokussiert war, also auf das Alltagsleben der Menschen. Das haben wir beibehalten. Wir wollen sicherstellen, dass diese lebenswerte Stadt auch für alle leistbar bleibt, die auch dazu beitragen, dass diese Stadt funktioniert.
Stichwort leistbar: Gerade die FPÖ kritisiert die SPÖ wegen der hohen Kosten und bezeichnet Sie persönlich als „Räuber Rathausplatz“. Können Sie das nachvollziehen?
Man braucht nur die Leistungen, die die Sozialdemokratie im Laufe der Jahrzehnte für diese Stadt erbracht hat und jene Leistungen, die die FPÖ erbracht hat, gegenüberstellen. Ich glaube, da wird jeder relativ leicht entscheiden können, wer recht hat. Sieht man sich allein die Maßnahmen an, die wir im Kampf gegen die Teuerung ins Leben gerufen haben – von der Wiener Energiekostenpauschale, zum Wiener Wohnbonus, bis zum Aussetzen der Mietpreisanpassung im Gemeindebau – so erkennt man eine klare sozialdemokratische Handschrift.
Die aktuelle weltpolitische Lage macht es notwendig, sich mit den dunkelsten Kapiteln der österreichischen Geschichte auseinanderzusetzen – etwa mit dem Antisemitismus.
In der Geschichte unseres Landes hat es furchtbare Ereignisse in diesem Zusammenhang gegeben. Eines der schlimmsten Verbrechen war sicher die Vertreibung, aber auch Ermordung der gesamten jüdischen Gemeinde im Jahr 1421. Georg Ritter von Schönerer führte den Antisemitismus in die Politik ein und für die Gemeinderatswahl 1888 verbanden sich die Christlichsozialen und die Deutschnationalen zu einer Wahlgemeinschaft, der „Antisemitenliga“. Schönerer schied später aus und Karl Lueger wurde der Anführer der antisemitischen Bewegung. Das war eine Vorstufe von dem, was dann später unter den Nationalsozialisten entwickelt worden ist. Am Ende des 19. Jahrhunderts lebten 200.000 Jüdinnen und Juden in Wien. Ab 1941 sind dann die allermeisten, die nicht flüchten konnten, von den Nazis verfolgt und in Konzentrationslager deportiert worden. Wir haben eine besondere Verantwortung der jüdischen Gemeinde gegenüber, die während der Zeit des Nationalsozialismus Furchtbares erleiden musste. Ich freue mich, dass wir in der Gegenwart eine sehr lebendige jüdische Gemeinde haben.
Oft liest man in den sozialen Medien, dass sich viele mit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr auseinandersetzen wollen, weil man sich nicht für etwas schuldig fühlen will, das frühere Generationen getan haben. Wie antworten Sie darauf?
Zum einen gibt es eine Verantwortung aus dieser Vergangenheit heraus, die man wahrnehmen sollte. Zum anderen gilt es, generell gegen jede Form von Antisemitismus und Rassismus aufzutreten. Leider mussten wir auch in Wien Anschläge erleben, wie zuletzt der Anschlag vom 2. November 2020, bei dem vier Menschen starben. Aber auch in der Vergangenheit kam es zu Anschlägen in Wien. Heinz Nittel, den ich persönlich noch gut gekannt habe, war Stadtrat und Präsident der Österreichisch-israelischen Gesellschaft. Er wurde vor mehr als 40 Jahren von einem Terroristen ermordet. Auch in den 1980ern gab es Anschläge. Das sind Zeichen dafür, dass wir keine Insel der Seligen sind. Aus diesem Grund ist wichtig, sich als demokratische Gesellschaft vom Terrorismus nicht unterkriegen zu lassen.
Was bei den Ambitionen von Bruno Kreisky oft übersehen wird, ist, dass diese auch legitimiert waren, und er nicht aufs Geratewohl in den Nahen Osten gefahren ist.
von Michael Ludwig
Bürgermeister
Trotzdem ist Antisemitismus wieder allgegenwärtig. Muss man in Wien noch sensibler reagieren als in anderen Ländern?
Ich denke, dass wir uns unserer Verantwortung durchaus bewusst sind. Es war ein starkes Zeichen, dass unmittelbar nach diesem furchtbaren Angriff der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung viele zu einer Solidaritätskundgebung am Ballhausplatz gekommen sind, bei der ich auch sprechen durfte.
Wie schwer ist es, sich als Politiker im Spannungsfeld zwischen der Verurteilung von islamistischen Antisemitismus und Terror und dem gleichzeitigen Vermeiden von rassistischen Ressentiments zu bewegen?
Für mich ist es klar. Ich lehne jede Form von Terrorismus ab. Eine Terrororganisation wird aus meiner Sicht nie eine Unterstützung von einer demokratischen Gesellschaft finden können. Und das Existenzrecht Israels ist für mich auch unbestritten. Dessen ungeachtet ist es wichtig, für die Zivilbevölkerung, die auch durch diese militärischen Maßnahmen betroffen ist, Empathie zu empfinden.
Die Nahost-Politik und die Konfliktlösungsbemühungen der SPÖ unter Bruno Kreisky waren international viel beachtet. Sollte Österreich hier wieder eine größere Rolle spielen?
Was bei den Ambitionen von Bruno Kreisky oft übersehen wird, ist, dass diese auch legitimiert waren, und er nicht aufs Geratewohl in den Nahen Osten gefahren ist. Er hat das in enger, internationaler Abstimmung getan. Kreisky hat damals sehr stark für eine Zweistaatenlösung argumentiert und hat immer darauf verwiesen, wie wichtig es ist, auch die dort lebende palästinensische Bevölkerung einzubeziehen. Von daher war er sicher ein sehr vorausschauender Politiker, der auch in der Lage war, mit ziemlich allen Beteiligten konstruktive Gespräche zu führen. Das gelingt heute wenigen Politikern. Er hat sich dadurch aber nicht nur Freunde gemacht, war aber in der Lage, zumindest eine positive Stimmung für Friedensgespräche zu initiieren, die dann später auch aufgegriffen worden sind.
Sehen Sie Wien nach wie vor als geeigneten Boden für Friedensgespräche?
Kreisky hat gemeinsam mit dem Wiener Bürgermeister Leopold Gratz erreicht, dass die Vereinten Nationen ihren Sitz nach Wien verlegt haben. Darauf sind wir sehr stolz. Wir sind der einzige vollwertige Sitz der Vereinten Nationen innerhalb der Europäischen Union und mehr als 40 weitere internationale Institutionen sind hier ansässig. Damit ist Wien eine der wichtigsten Städte im Bereich internationaler Diplomatie. In Kombination mit der Neutralität Österreichs sind wir ein idealer Standort für Friedensgespräche.
Es ist sicher nicht hilfreich, wenn man ein Schengen-Veto gegenüber Rumänien und Bulgarien einlegt.
von Michael Ludwig
Bürgermeister
Wie stehen Sie zur Neutralität?
Ich bin ein Verfechter davon, weil das keine politische Neutralität im eigentlichen Sinne ist, sondern eine militärische. Ich bin dafür, dass wir diese Neutralität gemeinsam mit einer aktiven Außenpolitik einsetzen, um auch international friedenssichernde Maßnahmen setzen.
Es ist vor allem notwendig, sich innerhalb der Europäischen Union abzustimmen und dafür zu sorgen, dass wir als gemeinsames Europa und als Ort des Friedens wahrgenommen werden. Ich habe mich sehr gefreut, dass die Europäische Union im Jahr 2012 den Friedensnobelpreis bekommen hat.
Was ist das Besondere daran?
Die Geschichte des ganzen Kontinents ist eine Geschichte voll von Kriegen und Konflikten. Dass es möglich ist, über Jahrzehnte in Frieden zu leben, ist auch auf die Rolle der Europäischen Union zurückzuführen und ist keine Selbstverständlichkeit in den Geschichtsbüchern. Ich zitiere hier Willy Brandt, der gemeint hat, Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Man sollte als relativ kleines Land für Dialog und Diplomatie werben. Es ist hingegen sicher nicht hilfreich, wenn man ein Schengen-Veto gegenüber Rumänien und Bulgarien einlegt. Das stößt, so glaube ich, bisherige Partnerländer vor den Kopf und ist auch kein kluger Schachzug, wenn man bedenkt, dass ein großer Teil aller Pflegekräfte aus Rumänien kommt.
Von Sigmund Freud bis Erwin Schrödinger: Wiener Wissenschafter haben die Welt verändert. Ist der wissenschaftliche Nährboden in Wien noch reichhaltig genug, dass wir auch zukünftig große Namen hervorbringen?
Wir sind im deutschsprachigen Raum der größte Universitätsstandort mit neun Universitäten, sechs Privatuniversitäten und fünf Fachhochschulen. Wir sind also sehr gut aufgestellt. So war ich erst vor Kurzem bei einer Veranstaltung der Wiener Volkshochschulen, bei der Nobelpreisträger Anton Zeilinger, der seit Jahrzehnten den Forschungsstandort Wien prägt, eine Einführung in die Quantenphysik gab. Und der diesjährige Physiknobelpreisträger Ferenc Krausz führte seine Grundlagenforschung an der TU Wien durch.
Mit welcher historischen Figur würden Sie gerne einen Kaffee trinken ?
Wir haben schon über ihn gesprochen: Bruno Kreisky. Ich würde ihn fragen, wie er zur Neutralität unter den heutigen Bedingungen steht, wie er die Situation im Nahen Osten einschätzen würde und wie er die Rolle der Sozialpartnerschaft in der Zukunft sehen würde. Und ich würde mit ihm über das Verhältnis von Politik und Medien diskutieren. Ich bin auch Vorsitzender des Bruno-Kreisky-Archivs, auch daraus würden sich einige Fragen ergeben.
Was würden Sie sich wünschen, das in zukünftigen Geschichtsbüchern über Sie geschrieben steht?
Dass ich als Bürgermeister in schwierigen Zeiten – wir haben mehrere Krisen, die hintereinander und übereinander gelagert sind – mit ruhiger Hand für die Wiener Bevölkerung die richtigen Entscheidungen getroffen habe.
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