Lokalaugenschein: Vintage-Schokolade aus der Hinterhof-Manufaktur

Lokalaugenschein: Vintage-Schokolade aus der Hinterhof-Manufaktur
In der Brigittenau stellt ein Familienbetrieb eine Rarität her: von Hand gegossenen und folierten Christbaum-Behang aus Schokolade – der aussieht wie früher.

Exakt 29 Grad muss die Schokolade haben. Dann kann sie zu Jesuskindern, Papageien oder Tannenzapfen verarbeitet werden. Robert Kammerer benötigt kein Thermometer, um zu wissen, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist.

Der Zuckerbäcker streicht sich einfach einen Klecks flüssige Schokolade ans Kinn: Brennt das, muss die Masse noch etwas abkühlen. Fühlt sich die Schokolade angenehm an, kann sie in die Förmchen gegossen werden. Und jene, die Kammerer verwendet, sind etwas ganz Besonderes.

Dementsprechend sorgsam geht er mit ihnen um: Kammerer bewahrt die Förmchen in Papier gewickelt und in Kartons geschlichtet auf. „Bergschuhe“, „Krampuskopf“, „Butte“ ist darauf zu lesen.

 „Einige Formen stammen noch von meinem Großvater. Andere von befreundeten Konditoren, die aufgehört haben“, sagt Kammerer. 

Lokalaugenschein: Vintage-Schokolade aus der Hinterhof-Manufaktur

Die Schokolade-Förmchen sind alter Familienbesitz. 

Eine Mitarbeiterin hat inzwischen zwei Schachteln geöffnet: Auf der Arbeitsplatte stapeln sich jetzt kleine Bleche mit detailgenauen Einbuchtungen: Schmetterlinge mit filigran gemusterten Flügeln, Teddys mit Zottelfell, Fische mit feinen Schuppen.

Mit ihnen produziert Kammerer eine Rarität: handgefertigten Schoko-Christbaumschmuck.

400 Kilo Schmuck

Seine Schokoladefabrik befindet sich in der Dammstraße in der Brigittenau: gut versteckt in einem Hinterhof – und direkt neben jener Moschee, gegen die vor mehr als zehn Jahren empörte Bürger und die FPÖ mit dem Kreuz in der Hand demonstrierten.

Kammerer führt seine „Wiener Lebkuchen- und Schokolade-Manufaktur“ seit 20 Jahren. Seine Vorfahren gründeten das Unternehmen im Waldviertel, in den 1940er-Jahren zog man in den 20. Bezirk um. „Anfangs hat meine Großmutter die Waren noch mit dem Leiterwagen in der Gegend verkauft“, sagt Kammerer.

Lokalaugenschein: Vintage-Schokolade aus der Hinterhof-Manufaktur

Kammerer führt den Familienbetrieb seit 20 Jahren. 

400 Kilogramm Christbaumschmuck hat er heuer hergestellt – die Produktion ist für diese Saison im Wesentlichen abgeschlossen. Nur noch einzelne Figuren werden dieser Tage nachproduziert.

Die größeren unter ihnen werden mithilfe von Maschinen gefertigt: Von einem großen Schokolade-Tank gelangt die flüssige Masse über eine Art Portioniergerät in die Formen, eine weitere Maschine verteilt die Schokolade gleichmäßig darin.

200 verschiedene Figuren

Die kleineren Exemplare (das sind 150 bis 200 verschiedene Figuren) werden rein manuell hergestellt. Die Schokolade dafür bekommt Kammerer in Blöcken aus Deutschland angeliefert.

Die Ziegel werden in großen Wannen in einem warmen Kammerl geschmolzen und dann – unter Zuhilfenahme von Schokoladebruch und unter Anwendung des Kinn-Tests – auf die erforderlichen 29 Grad gebracht.

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Die richtige Temperatur ist deshalb so wichtig, damit sich die Zucker- und Fettmoleküle gut miteinander verbinden. Geschieht das unzureichend, wird die gegossene Figur gräulich. Von manchen der antiken Formen hat Kammerer übrigens nur noch so wenige, dass er sie aus Kunststoff nachbaut: „Sonst geht ja nichts weiter.“

Kalte Hände erwünscht

Abgesehen von der Original-Form zeichnet sich der Schmuck auch durch die zeittypische Verpackung aus. Sämtlicher Baumbehang wird händisch in buntes Stanniol gewickelt. Auch hier greift Kammerer teilweise auf Altbestände zurück.

Manche Folien lässt er in Deutschland nachdrucken. Andere sind schlichtweg aus, sobald das letzte Stück um eine Figur gewickelt wurde.

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Die Verpackung ist schon vergilbt, das Stanniol taugt noch. 

Damit das Umwickeln gelingt, benötigt man zwei Dinge. Erstens: je nach Figur ganz eigene Tricks. Und zweitens: kalte Hände. „Einmal wollte eine Mitarbeiterin aus einer anderen Abteilung zum Einwickeln wechseln. Aber: Ihre Hände waren zu warm, die Schokolade ist geschmolzen“, so Kammerer.

Beim Verpacken starte man meistens in der Mitte der Figur und arbeite sich nach hinten – wo die Folie auf eine spezielle Art und Weise zusammengedrückt wird. Bei industriell hergestellten Figuren ist ein solcher Bug nicht zu finden, sie haben eine glatte Kante. Zum Abschluss wird die Folie noch glatt gebürstet.

Kalte Füße bekommen

In seiner Nische fühle er sich wohl, sagt Kammerer. „Der Bedarf für solche Produkte ist da. Deshalb haben auch Zuckerlgeschäfte ihre Berechtigung“, sagt Kammerer. „Ich würde zwar mehr verdienen, wenn ich die Räumlichkeiten hier vermieten würde. Aber es macht einfach Spaß.“

Das Geschäft sei immer gelaufen – bis die Corona-Pandemie kam, sagt Kammerer. Im Herbst hat der Zuckerbäcker angesichts der Umsatzeinbrüche zum ersten Mal ans Aufhören gedacht, sich aber dann doch dagegen entschieden.

Zu schaffen gemacht hat ihm vor allem der Ausfall der Märkte und Kirtage. Dort verkauft der Zuckerbäcker seine zweite Spezialität: hübsch verzierte Lebkuchen. Diese werden ebenfalls von Hand in der Schokoladefabrik im 20. Bezirk hergestellt. Erhältlich sind sie nicht nur in weihnachtlicher Aufmachung, sondern auch in Osterhasen- oder Herzform.

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Die Lebkuchen werden von Hand gebacken und verziert. 

Seinen eigenen Weihnachtsbaum dekoriert Kammerer übrigens nicht mit Schokolade-Behang: „Meine kleine Tochter würde den gleich herunterreißen“. Ein weiterer Grund: Seine Frau wolle den Schmuck einheitlich in Weiß halten.

Und weiße Jesuskinder, Papageien und Tannenzapfen, die hat Kammerer (noch) nicht im Sortiment.

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