Grabstätten im Wandel: Wenn Friedhöfe ihr Gedächtnis verlieren
Der Grabstein der Familie D. nahe der Hauptallee des Meidlinger Friedhofs hat schon bessere Tage gesehen. Doch die einstige Pracht lässt sich noch erahnen. Schwarz polierter Stein, die Namen in Gold eingraviert, an den verschnörkelten Eisenträgern zu beiden Seiten hingen wohl einmal Laternen.
Der Erste, der hier begraben wurde, war laut Inschrift Johann D., „Bürger und Hausbesitzer“, im Jahr 1909. Doch der Grabstein ist umgelegt, und auf dem verbliebenen Stumpf prangt neben orangen und roten Pickerln der Friedhöfe Wien ein rotes X. Es wird nicht mehr lange dauern, dann bleibt vom Familiengrab nur noch die Erinnerung.
Die bereitstehende Mulde ist gut gefüllt mit abgetragenen Grabsteinen – nach dem Abtransport werden sie zu Baumaterial und Straßenbelag verarbeitet. „Wir entfernen Grabsteine grundsätzlich sehr ungern“, sagt dazu Julia Stering, die Pressesprecherin der Friedhöfe Wien, im Gespräch mit dem KURIER. Erst versuche man vor Ablauf der Nutzungsdauer Angehörige zu kontaktieren. Dann kämen die Aufkleber zum Einsatz, die auf das ablaufende bzw. abgelaufene Nutzungsrecht aufmerksam machen sollen.
Wackelige Grabsteine
Und auch dann können alte Grabsteine noch lange stehen bleiben – wenn die bauliche Sicherheit gewährleistet ist. Denn bei mangelnder Standsicherheit, die auch nach Appellen an etwaige Angehörige nicht behoben wird, müssten die Steine in letzter Konsequenz abgetragen werden. Die sterblichen Überreste bleiben an Ort und Stelle und werden erst tiefer – unter die Grabsohle – gelegt, wenn das Grab neu vergeben wird und eine Beisetzung bevorsteht.
Sicherheit geht vor
„Das Sicherheitsthema ist wesentlich“, sagt Stering. Das gilt auch für Gräber, die einst auf Friedhofsdauer abgeschlossen wurden – was heute nicht mehr möglich ist. Werden die Gräber nicht fristgerecht instand gesetzt, kann auch ein Benutzungsrecht auf Friedhofsdauer aberkannt werden. So umfasst die online einsehbare Liste der Wiener Friedhofsdauergräber, deren Benutzungsrecht wegen mangelnder gärtnerischer und baulicher Instandsetzung aberkannt wurde, aktuell über 100 Seiten.
„Wenn man über den alten Simmeringer Friedhof geht, dann sieht man in den Hauptalleen kaum noch schöne, alte Gräber“, sagt der anonym bleiben wollende Administrator der Facebook-Gruppe „Rettet die Wiener Grabdenkmale“, „das ärgert mich furchtbar.“ Für den geschichtsinteressierten Mann sind alte Grabsteine eine Herzensangelegenheit und so mancher Verlust geht ihm besonders nahe. So wie das Familiengrab des k. u. k. Hofchefkochs Otto Desbalmes am Zentralfriedhof, das in Sichtweite der Karl-Borromäus-Kirche bereits mit einem roten X versehen ist.
Art der Gräber im Wandel
Tatsächlich hat man beim Friedhofsbesuch den Eindruck, dass sich die Reihen langsam lichten und Lücken entstehen, wo einst historische Gräber waren. Ein trügerischer Eindruck, wie Stering sagt. Denn vor allem die Art der Gräber sei im Wandel, nicht die Zahl der Beisetzungen. Naturnahe Grabstätten wie Baumgräber würden immer mehr nachgefragt und seien auf den ersten Blick gar nicht als solche zu erkennen. „Die Friedhöfe sind ein Spiegel der Gesellschaft, und das ist schön“, sagt Stering.
Dem kann nicht jeder uneingeschränkt zustimmen. „Es ist natürlich nicht jedes alte Grab bedeutsam“, sagt Paul Mahringer, Leiter der Abteilung für Denkmalforschung im Bundesdenkmalamt. „Aber irgendwann wird es nur noch wenige Grabdenkmäler aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert geben. Damit geht natürlich auch ein Stück Sepulkralkultur verloren.“ Er ortet Handlungsbedarf.
Grabpatenschaften
Ähnlich sieht man es bei den Friedhöfen in Salzburg. Dort gibt es seit 2017 die Möglichkeit, eine Grabpatenschaft zu übernehmen. „Wir haben so viele historisch wertvolle Gräber, die zu entsorgen ist ja ein Wahnsinn“, sagt Natascha Herbst, Leiterin der Friedhöfe der Stadt Salzburg. Und so kann man sich unter den gekennzeichneten Patenschaftsgräbern eines quasi reservieren, für das dann erst ab der ersten Neubelegung Gebühren anfallen. Das werde gut angenommen, erzählt Herbst.
Das alte Grab bleibe der Nachwelt erhalten, und der Käufer bekomme eine schöne Grabanlage, die ihn nichts gekostet hat. Dafür muss man sich aber auch an Regeln halten: „Man darf die bestehenden Gräber nicht verändern, nur die alten Namen herausschleifen und die neuen gravieren.“
Nachnutzung mit Inventar
Patenschaften sind bei den Friedhöfen Wien zwar kein Thema, aber bei der freien Grabsuche werden auch Gräber mit vorhandenem Inventar zur Nachnutzung angeboten. Auch wenn die Auswahl eher überschaubar ist – nachhaltiger als ein neuer Stein, der oft in Kinderarbeit in Indien aus dem Fels gehauen wurde, ist es allemal.
Was bleibt, ist letztlich eine finanzielle Frage – und eine, wie Mahringer sagt, gesamtgesellschaftliche. Denn wenn sich die Nachfrage ändert, die alten Gräber von Nachkommen nicht mehr erhalten werden können, oder es keine Angehörigen mehr gibt, die dafür aufkommen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Gräber verfallen, von den Friedhöfen verschwinden und sich das Bild in den Alleen unwiederbringlich verändert.
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