Erste Berichte über Triage in Wiens Spitälern

„Ich musste mir zum ersten Mal überlegen: Bei wem drehe ich das Beatmungsgerät ab, wenn ich es für einen Notfall brauche?“ In diesen Worten schildert ein Arzt, der anonym bleiben möchte, die Situation auf einer Intensivstation in einem Gemeindespital dem KURIER. Am vergangenen Wochenende sei eingetreten, was am Beginn der Corona-Pandemie befürchtet wurde: die Triage. Die Entscheidung, wem im Notfall geholfen werden kann und wem nicht.
In einer Nacht habe der Arzt neun Rettungswägen abweisen müssen. „Weil kein Intensivbett mehr frei war.“ Für solche Fälle gibt es den Bettenspiegel. Er zeigt an, in welchen Spitälern noch Kapazitäten frei sind. Aber nicht in dieser Nacht: „Es gab kein einziges freies Intensivbett in ganz Wien, alle Stationen waren voll. So etwas habe ich noch nie erlebt.“ Wo die Notfallpatienten am Ende untergekommen sind, wisse er nicht.
Schmerzfrei
Auch andere Szenen, die der Mediziner wiedergibt, würde man in Österreich nicht für möglich halten: „Auf einer anderen Station lag eine Dame in einem Gangbett, der es offensichtlich schlecht ging. Also habe ich bei den Kollegen nachgefragt.“
Die Patientin dürfe gehen, so die Antwort. „Das ist ein Code für: Wir warten, bis sie stirbt und machen es ihr so schmerz- und stressfrei wie möglich. Sterben ist in Ordnung, aber nicht in einem Gangbett. Nicht in Österreich.“ Das Pflegepersonal habe lange Zeit viel ausgehalten, sei nun aber am Ende. Zu zahlreichen Kündigungen kämen aktuell auch vermehrte Krankenstände hinzu. Ein Rundruf der Wiener Ärztekammer ergab, dass sich die Situation auch auf den Intensivstationen der anderen Kliniken immer weiter zuspitzt. Die Stationen seien voll, teilweise auch wegen gesperrter Betten.

Der Wiener Gesundheitsverbund (Wigev) hat auf Anfrage keine Kenntnis derartiger Situationen. Die Vorwürfe des Arztes weist man zurück. Zu den Krankenständen heißt es: „Vermehrte Krankenstände aufgrund von Influenza und grippalen Infekten sind auch bei unseren Mitarbeitern spürbar. Insgesamt sind von den rund 30.000 Mitarbeitern 2.500 im Krankenstand. Die Versorgungslage ist aber stabil.“
Wie hoch die Arbeitsbelastung in Spitälern ist, zeigt auch der zweite Teil einer Umfrage im Auftrag der Wiener Ärztekammer (siehe Grafik). Durchgeführt wurde die Online-Befragung von Meinungsforscher Peter Hajek.

75 Prozent der Befragten gibt an, unter (sehr) hoher Arbeitsbelastung zu leiden. Als besonders belastend empfindet man den Personalmangel in der Pflege, den bürokratischen Aufwand sowie den Ärztemangel. Durch das hohe Arbeitspensum gehören Überstunden für viele zum Alltag. Jeder Zweite gibt an, regelmäßig Mehrstunden zu leisten, um die Arbeit zu schaffen. „Österreich ist ein Land der Überstunden-Mentalität. Das zeigt sich auch im Spital, es herrscht ein hoher Arbeitseinsatz“, erklärt Hajek.
Verletzung der Ruhezeit
Ein Viertel der Ärzte und Ärztinnen sagt, gesetzliche Ruhezeiten nicht einhalten zu können. „25 Prozent arbeiten in der Illegalität“, verdeutlicht Stefan Ferenci, Vizepräsident der Wiener Ärztekammer. Das sei einer sozialdemokratischen Stadtregierung nicht würdig.
Von der Stadt und Wigev fordert man innovative Lösungen. Vorgeschlagen wird, die Spitäler durch geschultes Personal zu entlasten, das bei organisatorischen und bürokratischen Tätigkeiten hilft. „Die Ärztekammer stehe jederzeit für eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zur Verfügung“, sagt Ferenci.
Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) bezeichnete die Umfrage zuletzt als „millionenschwere Kampagne gegen die Spitäler“. Dazu stehe er auf Anfrage weiterhin, die Gesprächsbasis zur Ärztekammer sei aber eine gute.
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