Endstation Westbahnhof: Immer mehr Obdachlose suchen hier Zuflucht
Fährt man im Frühverkehr mit der Straßenbahn am Westbahnhof vorbei, sind die vielen Obdachlosen, die dort derzeit ihre Nächte ohne Schutz auf den Grünflächen verbringen, nicht zu übersehen. In Grüppchen liegen sie im Gras, andere sitzen mit ihrem ganzen Hab und Gut in den Wartehäuschen der Haltestellen.
Es sind Menschen ohne Zuhause, die derzeit zum Westbahnhof kommen – und das hat auch einen Grund. Der KURIER hat mit einer Frau gesprochen, die in so einem Wartehäuschen übernachtet. „Es ist gefährlich auf der Straße. Es gibt viele, die schlagen, und ich habe Angst, vergewaltigt zu werden. Hier beim Westbahnhof kennen wir uns und passen ein bisschen aufeinander auf“, sagt Andrea, die ihren wahren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte.
Sie ist sich sicher, dass sie bald wieder ein Zuhause haben wird. „Ich gehe ins Burgenland“, sagt sie. Wie sie dort auf die Beine kommen will, kann sie nicht beantworten.
Andrea hat in Wien schon zwei Winter ohne Wohnung überstanden. „Da war ich aber in einer Unterkunft“, erklärt sie. Das ist im Sommer nicht so einfach möglich.
Im Sommer gibt es weniger Notschlafstellen
Während es zwischen November und Mai rund 1.000 Notschlafstellen gibt, sind es während der Sommermonate nur knapp 300. Dass sie gern genutzt werden, zeigen die Zahlen: Die Wiener Notquartiere sind fast immer bis zu 95 Prozent belegt.
Aber was passiert mit den Unterkünften im Sommer? „Die stehen meist leer und werden im November wieder aktiviert“, erklärt Rafael Kirchtag von den Vinziwerken. Für die Notschlafstellen müssten jeden Winter neue Mitarbeiter eingestellt werden, die im Mai dann wieder ohne Job dastehen.
Großer Andrang auch im Sommer
Der österreichweit tätige Verein Vinzi stellt in Wien ganzjährig zwei Notschlafstellen mit insgesamt 120 Plätzen zur Verfügung. Die Häuser werden überwiegend durch ehrenamtliche Helfer und Spenden am Laufen gehalten. Vor allem im Sommer sei viel los, weswegen es laut Kirchtag mehr Notschlafstellen für das ganze Jahr brauche.
Das Problem sei aber komplex: Die Wohnungslosenhilfe sei in Wien gut entwickelt.
Viele haben keinen Anspruch auf Wohnungslosenhilfe
Jene, die Hilfe suchen, sind aber gar nicht berechtigt, am Programm der Wohnungslosenhilfe teilzunehmen, erklärt Kirchtag: „Das sind meist EU-Bürger, die versuchen, in Wien Fuß zu fassen. Sie arbeiten oft in prekären Verhältnissen, mit der Folge, dass sie dann in einer Notsituation nicht ausreichend abgesichert sind.“
Um Anspruch auf Unterstützung im Fall akuter Obdachlosigkeit zu haben, muss man ein Jahr lang durchgängig beschäftigt und gemeldet sein.
Die Rückkehr ist oft keine Option
Auch auf die Frage, warum diese Menschen nicht in ihre Heimatländer zurückgehen, kennt Kirchtag die Antwort: „Oftmals ist der Lebensmittelpunkt schon so klar nach Wien verlegt, dass eine Rückkehr in das Heimatland keine Option ist, da sie auch dort keinen Anspruch auf Unterstützung haben“.
Diese Situation zeige, dass eine „nachhaltige Lösung nur auf einer höheren Ebene geschaffen werden kann und Kommunen wie die Stadt Wien damit nicht alleingelassen werden dürfen“, sagt Kirchtag.
Wien ist Anziehungspunkt für Obdachlose. Mehr als die Hälfte der rund 20.000 Obdachlosen in Österreich leben in der Bundeshauptstadt.
Geschlecht: Zwei Drittel der Menschen ohne Obdach sind männlich. In Wien kommen etwa 8.300 Männer auf 4.000 Frauen, wobei Letztere oft nur vorübergehend ohne Zuhause sind.
Alter: Knapp die Hälfte der Obdachlosen ist zwischen 31 und 54 Jahre alt.
Ähnliche Szenen spielen sich auf der Mariahilfer Straße ab
Nahe des Westbahnhofs, in der Mariahilfer Straße, zeigt sich ein ähnliches Bild: Ein Mann liegt vor dem Stiegenabgang zur U3-Station Neubaugasse. Er trägt schmutzige Jeans, seine Füße sind nackt und voller Wunden. Er liegt in der prallen Sonne und schläft. Zwei Sozialarbeiter in roten Westen beugen sich über den Mann, versuchen, ihn zu wecken.
Ein paar Schritte weiter, vor dem Eingang eines Supermarkts, sitzen mehrere Männer, zwischen ihnen Doppelliter-Flaschen und Bierdosen. Ihre Gesichter sind gerötet; von der Sonne und vom Alkohol. Auf der anderen Straßenseite haben sich ein paar Obdachlose mit ihren Hunden vor dem Eingang eines leer stehenden Geschäfts niedergelassen.
Um die Situation für die Bewohner wie für die Obdachlosen auf der Mariahilfer Straße zu verbessern, starteten Experten und Politiker kürzlich die Aktion „Gemeinsam miteinander – die Mariahilfer Straße“.
Erster Infostand Anfang Juli
Anfang Juli gab es am Bundesländerplatz einen ersten Infostand für Bezirksbewohner und Passanten, als Gesprächspartner stand unter anderem Markus Reiter, grüner Bezirksvorsteher von Wien-Neubau, Rede und Antwort.
Was sind also die Hintergründe der Problematik? „60 bis 70 Prozent der Menschen kommen aus Osteuropa, etwa Ungarn, wo es verboten ist, obdachlos zu sein“, erklärte er. Es handle sich also um „Armenvertreibung mitten in Europa“.
Angst vor Gewalt spielt auch hier eine Rolle
Ähnlich wie am Westbahnhof spielt die Angst, Gewalt zu erleben, eine große Rolle; insbesondere nach den Messerattacken auf Obdachlose im Vorjahr. Wohnungs- und Obdachlose würden bewusst stark frequentiere Orte wie eben die Mariahilfer Straße aufsuchen, weil sie sich dort sicherer fühlen, so Markus Hollendohner, Leiter der Wohnungslosenhilfe im Fonds Soziales Wien.
„Die Menschen sollen jedenfalls nicht das Gefühl haben, dass wir wegschauen“, betonte Reiter. Daher sind unter anderem mehr Sozialarbeiter und Mitarbeiter der Suchthilfe auf der Mariahilfer Straße unterwegs.
Der nächste Infostand am Bundesländerplatz findet übrigens am 4. September von 14 bis 18 Uhr statt.
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