Einst suchtkrank und obdachlos: Wie man aus dem Leben auf der Straße aussteigt

Thomas Kallaus absoliverte bei Neunerhaus den Lehrgang zum Peer. Er hilft nun anderen Menschen, die auf der Straße landeten.
In Großbritannien oder Skandinavien gibt es das System längst, seit 2019 werden auch in Österreich Peers ausgebildet. Menschen, die selbst auf der Straße lebten, nutzen ihre Erfahrung, um anderen zu helfen.

Die Lücken im Lebenslauf: Sie sind gefürchtet und werden bei Bewerbungen oft mit allerhand Tricks geschönt.

Was aber, wenn gerade die Lücken dafür sprechen, einen Job zu bekommen? Wenn gerade die sogenannte „Street Credibility“ gefragt ist, also das Wissen, wie das harte Leben auf der Straße läuft?

Einer, der seinen diesbezüglichen Erfahrungsschatz nützt, um anderen zu helfen, ist Thomas Kallaus. Er war opiatabhängig, lebte auf der Straße, schaffte aber den Absprung. 2021 machte er die Ausbildung zum Peer.

Wo der Einsatz von Peers schon üblich ist

In Großbritannien und Skandinavien ist der Einsatz von Peers unter Sozialarbeitern bereits gang und gäbe: Seit 2019 bietet die Sozialorganisation Neunerhaus auch in Österreich einen siebenmonatigen Lehrgang an, in dem ehemalige Obdachlose oder Suchtkranke zu Peers ausgebildet werden.

Der Gedanke dahinter: Hilfesuchenden fällt es oft leichter, sich Peers gegenüber zu öffnen und ein Gespräch auf Augenhöhe zu führen. Oder wie es Kallaus formuliert: „Ich habe das alles selbst erlebt und selbst gespürt.“ Aus seiner Erfahrung wisse er: „Es ist in Ordnung, wenn man auf die Schnauze fällt. Und es gibt immer eine Geschichte, die dahintersteht.“

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So auch bei ihm. Er ist 1990 geboren und im Weinviertel in Niederösterreich aufgewachsen. Als er zwölf war, starb seine Mutter. Er absolviert seine Lehre zum Installateur, dann zog er zu seinem Bruder in die „große Stadt“ nach Wien.

Auf Drogen und Partys folgte die Delogierung

Dort habe er „das Partyleben“ kennengelernt. Also Alkohol und Drogen, Benzodiazepine (synthetisches Beruhigungsmittel, Anm.) und Opiate, durchfeierte Nächte, falsche Freunde. Irgendwann, sagt er, seien sein Bruder und er nicht mehr zur Arbeit gegangen. „Wir haben die Miete nicht mehr bezahlen können. Aber man nimmt Drogen und schiebt diese Probleme irgendwie weg“, erzählt Kallaus. Bis sie 2008 delogiert wurden und beide auf der Straße landeten.

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Das Leben wurde ein ständiges Durchlavieren: Schlafen bei einem Freund, in der Gruft, oder „bei irgendeinem Dealer“. „Man wacht auf, holt sich Drogen. Dann bist du sechs Stunden gut drauf, die folgenden zwölf sind wieder furchtbar.“

"Du kommst Dir vor, wie der letzte Dreck"

Das Schamgefühl, keine saubere Kleidung zu haben oder um Geld betteln zu müssen: „Du kommst dir vor, wie der letzte Dreck, der keinen Beitrag zur Gesellschaft leistet“, sagt er.

Doch Kallaus hatte Glück, denn 2009 kam es zu einem Wendepunkt in seinem Leben: Er lernte seine Lebensgefährtin kennen, die in einer ähnlichen Situation steckte. „Aber wir haben einander gehabt, das hat uns Kraft gegeben.“ Gemeinsam bekamen sie eine Startwohnung der Stadt Wien, sie fanden auch wieder eine Arbeit.

Kallaus hörte auf, Drogen zu nehmen, und lebte mit dem Ersatzstoff Substitol. 2017 macht er einen Entzug und konnte auch damit aufhören.

Ein weiterer Wendepunkt kam 2021, als er im Internet auf die Ausbildung zum Peer stieß. „Da hab’ ich mir gedacht: Das ist doch genau das Puzzleteil, das in der Sozialarbeit noch fehlt.“

Neunerhaus bietet siebenmonatige Ausbildung

Die siebenmonatige Ausbildung besteht aus Theorie, Praxis und Selbstreflexion. Die Ausbildung habe ihm Selbstvertrauen gegeben: „Du zählst wieder etwas, auch mit deinen Fehlern.“

Mittlerweile ist Kallaus Mitarbeiter von Neunerhaus, er betreibt das Café in einem Wohnheim für Obdachlose in der Hagenmüllergasse. Ein paar Bewohner helfen mit: „Die Regelmäßigkeit ist wichtig für sie: aufstehen, etwas Sauberes anziehen, den Tag bewältigen.“

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Außerdem begleitet er Klienten zum Einkaufen, zur Bank, zur Versicherung. Das Wichtigste ist aber wohl das Zuhören: „Die Menschen müssen sich viel von der Seele reden. Und sie vertrauen mir, weil sie wissen, dass ich das selbst durchgemacht habe.“ Wichtig sei aber, sich abzugrenzen und auch „Nein“ zu sagen, um sich nicht ausnutzen zu lassen.

„Ich habe mich noch nie so wohlgefühlt wie jetzt“, resümiert er. Wie er seinen Job als Peer anderen erklären würde? Er sei ein Vermittler, ein Dolmetscher, sagt Kallaus. „Einfach Mensch sein – mit Ausbildung.“

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