24 Stunden im Wiener AKH: Das Krankenhaus, das niemals schläft
Es ist Österreichs größtes und wichtigstes Krankenhaus: Das Wiener AKH. Jahr für Jahr erfolgen hier mehr als 60.000 stationäre Aufnahmen, mehr als eine halbe Million ambulante Fälle werden versorgt.
In einem multimedialen Themenschwerpunkt leuchtet der KURIER die vielseitigen Facetten des Spitals der Superlative aus:
- Video: Das Krankenhaus, das niemals schläft
- Milliarden-Sanierung des Wiener AKH gerät in die Inflationsfalle
- Mangel beim Pflegepersonal sorgt für OP-Verschiebungen
- Geschichte: Sensationen und Skandale im Wiener AKH
Bis zum Sonnenaufgang dauert es noch eine Stunde. Auf den AKH-Gängen fährt das gedimmte Licht dennoch pünktlich um 6 Uhr morgens hoch. Wie ein Shuttleservice bringt jede U6 einen Schwall Menschen an ihren Arbeitsplatz.
Am Haupteingang werden routiniert Ausweise vorgezeigt und Gurgeltests eingeworfen. Unter den Ankommenden sind auch Mitarbeiter aus der Logistik.
Für sie beginnt der Tag im zweiten Untergeschoß am zentralen Transportbahnhof – nicht ganz reibungslos. Es gibt eine Störmeldung. Wie bei einem Boxenstopp stehen alle um 6.30 Uhr an ihrem Slot und warten darauf, dass das Band losrattert. Was es an diesem Morgen nicht tut.
Das Schienensystem versorgt alle Abteilungen mit Wäsche, Medizinprodukten und Speisen. Es gilt ein strenger Zeitplan, um 40 Bahnhöfe im ganzen Haus zu beliefern. Dauert der Ausfall zu lange, schließt sich das erste Transportfenster und Notfallpläne treten in Kraft.
Um kurz vor 7 Uhr rollen die Container endlich los und die Wäsche für die Stationen, OP-Säle und Ambulanzen ist auf Schiene. Von dort kommen die Boxen voll mit Schmutzwäsche gefüllt zurück, werden ausgeräumt, durch die Waschstraße geschickt und neu befüllt.
Einheit macht blau
An nur einem Tag fallen rund 13 Tonnen Wäsche an. Eine unvorstellbare Menge. Für die Leiterin der Wäscheversorgung, Viktoria Bednarsky, ist es Alltag: „Es ist nicht wie im Supermarkt, wo die Butter ausgeht. Man ist sich bewusst, dass es um Patienten geht. Wenn man auf den Gängen unterwegs ist, merkt man, worum es geht und man ist froh, das Haus versorgen zu können.“
Dafür ist man auch auf Lieferanten angewiesen. Mehrmals pro Tag bringen Lkw Nachschub aus der Zentralwäscherei. Der erste ist bereits um 7.15 Uhr da. Es wird ausgeladen, die Wäschepakete für den nächsten Tag werden geschnürt.
Einer der größten Brocken ist die Dienstkleidung für 10.000 AKH-Mitarbeiter. Sie alle sollen bald einheitlich blaue Kittel und Hosen tragen, unabhängig vom Berufsstand. Damit will man für einen respektvolleren Umgang untereinander sorgen. Hier habe es in der Vergangenheit Probleme gegeben.
Doch die Umstellung ist ein Kraftakt und dauert Monate: „50.000 Stück wurden bereits geliefert. Jedes einzelne muss in die Hand genommen, mit einem Strichcode versehen und eingescannt werden, bevor es in den Wäschekreislauf kommt“, erklärt Bednarsky.
Kopfüber in die Wäsche
Das System ist durchdacht, nichts soll verloren gehen. Für manche wird die Schmutzwäsche auch zur Fundgrube. Auf der Suche nach ihren Eheringen verirren sich mitunter Mitarbeiter aus den oberen Stockwerken nach unten.
Dass sie ganze Container auf den Kopf stellen, ist weniger gerne gesehen und der Zugang nun strenger geregelt.
Vereinte Nationen
Pro Kopf gerechnet, arbeiten im AKH rund 10.000 Menschen aus insgesamt 76 Nationen. Gesprochen werden von ihnen 70 verschiedene Sprachen
Brot und Semmeln
An nur einem Tag erhalten die Stationen 1.400 Semmeln, 45 Kilo Vollkornbrot und 65 Kilo Mischbrot. Pro Jahr werden rund 1,3 Mio. Speisenportionen ausgegeben
Wer sich in den Kellergängen nicht auskennt, versucht auf Zehenspitzen über die Gitterwägen hinweg den Weg ins Zentrallager zu finden. Ab 8.30 Uhr kommen die Botendienste, jeden Tag müssen 450 Lieferposten übernommen werden.
Ein Großteil der Waren wird noch am selben Tag an die Stationen verschickt, nur acht Prozent wandern direkt ins Lager. Absolutes Tabu ist der Pandemievorrat. Die Reserven sind in der Signalfarbe Rot beschildert. Soll heißen: Finger weg.
Klopapier
Im Zentrallager gibt es 1.200 Artikel. Im Monat werden 32.000 Rollen Klopapier, 2,4 Mio. Untersuchungshandschuhe sowie bis zu 50.000 Masken verbraucht
Kleinstadt
Mit 86 Metern Höhe gilt das AKH als Hochhaus. Die Grundrissfläche entspricht 129 Fußballfeldern bzw. einer Kleinstadt mit 5.000 Einfamilienhäusern von je 200 Quadratmeter Größe
Die Angst vor Einbrüchen ist realer geworden: „Wir wollten schon länger ein Überwachungssystem für das Lager und haben die Pandemie dazu genutzt“, erklärt Hellinger. Nach deren Ausbruch war man in der Abteilung auf Abruf. Mal benötigte ein anderes Spital dringend Masken, dann hieß es, ein Lkw sei mit Nachschub von der Grenze aufgebrochen.
Wer bereits Zuhause war, kehrte ins Spital zurück, wartete die Nacht hindurch, um die Lieferung zu empfangen – manchmal vergeblich. Was mit dem Nachschub passiert ist, kann man sich bis heute nicht erklären.
Der vor 2020 übliche Jahresbedarf an Masken wird mittlerweile in nur einer Woche verbraucht, sagt Klaus Hellinger, Leiter der Lagerlogistik. Für diese Menge an Schutzausrüstung ist selbst das weitläufige AKH nicht ausgelegt. Die Ausrüstung ist daher zusätzlich in 16 Baucontainern untergebracht – und wird überwacht.
Wo die Millionen lagern
Rund 1.200 Artikel hat das Lager im Sortiment, der Wert geht in die Millionen. Umgerechnet ist das AKH so groß wie eine Kleinstadt mit 5.000 Einfamilienhäusern. Dementsprechend groß ist auch der Verbrauch von Klopapier: 32.000 Rollen sind es im Monat.
Es wollen aber nicht nur die Grundbedürfnisse abgedeckt werden. Zusätzlich zu den üblichen Nahversorgern gibt es im AKH auch ein Reisebüro.
Urlaub vom Krankenbett
Neben dem Geschäft mit Kongressreisen für Ärzte, zählen auch Patienten zu den Kunden von Inhaberin Birgit Ludwig: „Nach einer Krankheit sind die Leute froh, wieder reisen zu können und wollen an ferne, tropische Ziele wie die Malediven oder eine Schiffsreise machen.“
Oft werden Ludwig auch Schicksale und Krankheitsverläufe geschildert. Als belastend empfindet sie das nicht: „Im Gegenteil, es verbindet. Die Freude überwiegt.“
Spital mit eigenem Navi
Durch die Zutrittskontrollen ist das Geschäft schwieriger geworden. Das AKH will auch künftig Kontrollen durchführen, um zu verhindern, dass Menschen die Eingangshalle als Einkaufszentrum nutzen.
Das meiste Aufkommen gibt es ab 11 Uhr, wenn sich vor den Lokalen lange Schlangen bilden. Die Sitzplätze reichen nicht annähernd aus, gegessen wird überall, oft mit dem Mittagessen auf dem Schoß.
Vor der Pandemie gingen im AKH pro Tag rund 20.000 Menschen ein und aus. Für sie hat AKH sogar ein eigenes Navigationssystem. Über den digitalen Wegweiser werden per Web-Applikation Start und Zielort eingegeben und die Route berechnet.
Eine Wegbeschreibung in die HNO-Ambulanz braucht Patient Tristan nicht, er ist nicht zum ersten Mal hier. Nach einem Fahrradunfall musste seine Nase teilamputiert und schrittweise wieder aufgebaut werden. Nur wenig später saß er wieder im Sattel und auch zu diesem Termin ist er in Radlerhosen gekommen.
Einmal tief Luft holen
Bei Facharzt Sven Schneider, der auf das „N“ in HNO spezialisiert ist, hat Tristan um 15 Uhr eine Kontrolle vor der nächsten Operation. Danach kann er hoffentlich wieder tief Luft holen.
Im Schnitt behandelt Schneider 15 bis 25 Patienten am Tag. Hin und wieder ginge auch mal einer verloren: „Dann gibt es aber ein Suchkonzept.“ Zu Schneiders Alltag gehört inzwischen auch immer mehr Deeskalation, wenn Patienten aggressiv werden.
„Wenn wegen Personalmangel oder Krankenständen eine Berufsgruppe wegfällt, funktioniert das ganze System nicht mehr. Das merken wir in letzter Zeit sehr oft. Die Pandemie hat die Situation verschärft. Es kommt zu längeren Wartezeiten und Operationen müssen verschoben werden.“
Ob er manchmal an seiner Berufswahl zweifelt? „Laufend“, sagt Schneider. Er lacht. „Das Positive überwiegt dann aber doch und genau deswegen macht man weiter.“ Nach der OP-Aufklärung wird der Arzt zum Fotografen. In einem Kammerl werden von Tristan Fotos für Vorher-Nachher-Bilder gemacht.
Wo, wenn nicht hier
Nach der OP wird Tristan auf der HNO-Bettenstation von Gesundheits- und Krankenpflegerin Sarah Tomsich versorgt. Sie hat sich bewusst für das AKH als Arbeitsplatz entschieden.
„Als junger Mensch sucht man das Actionreiche und die Abwechslung. Das AKH ist ein Universitätsklinikum, man sieht und lernt extrem viel. Wo, wenn nicht hier.“ Die Besuchszeit bis 18 Uhr gehört zu den stressigsten. Viele wollen mit Tomsich sprechen und über den Zustand ihrer Angehörigen aufgeklärt werden.
Von den vielen Gesichtern bleiben der Pflegerin nicht viele in Erinnerung. Was im Gedächtnis bleibt, sei das Schöne: „Wenn Patienten nach Wochen wieder sprechen und essen können. Diese Freude motiviert.“
Nach der Besuchszeit kehrt abendliche Ruhe ein. Nachtdienste auf der HNO können heikel sein, da Notfällen meist Atemwegsprobleme betreffen. „Da muss man laufen“, so Doktor Schneider aus Erfahrung.
Noch mal von vorn
Tag und Nacht im Einsatz sind auch die Securitys am Haupteingang. In gewisser Weise ersetzten sie den Portier, alle Ankommenden branden bei ihnen an – und auch deren Ärger, oft in Form von rassistischen Beschimpfungen. Irgendwie schaffen sie es, bis zum Ende der Zwölf-Stunden-Schicht hilfsbereit zu bleiben.
Das Ende der Nacht ist im AKH die Dienstübergabe um 6.30 Uhr. Dann geht alles von vorne los.
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