Legendäre Wiener Kriminalfälle: Von Fleischwolfmorden und Scharfrichtern

Die meisten im Buch "Tatort Wien" vorkommenden Kriminellen sind bereits tot. So auch Serienmörder Alfred Engleder
Blutüberströmt und mit Würgemalen am Hals gegen einen Heizkörper gelehnt. So fanden Wachbeamte der Justizanstalt Stein 1974 einen leblosen Häftling. Kurz darauf war klar: „Der Karl hat den Rogatsch erwürgt.“
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Gemeint war Ex-Polizist Ernst Karl, der zu diesem Zeitpunkt wegen Doppelmordes im Hochsicherheitstrakt einsaß. Johann Rogatsch war hinter Gittern, weil er eine Studentin vergewaltigt und zerstückelt hatte. So landete er auf der „Abschussliste“ des einstigen Ermittlers.

Autor Clemens Marschall will die (Kriminal-)Geschichte Wiens neu erzählen
Es sind wahre Geschichten wie diese, die Autor Clemens Marschall in seinem neuen Buch „Tatort Wien“ faszinieren. Für sein Buch hat er teils nie veröffentliche Fotos zusammengetragen.
„Der Ernst Karl war in den 60ern ein Polizist und geheimer Homosexueller. Darauf stand damals eine Strafe von bis zu fünf Jahren. Zwei Gangster wussten das und haben ihn erpresst“, erzählt Marschall. Die Forderungen wurden immer unverschämter - bis der ehemalige Polizist entschied, gegen seine Erpresser vorzugehen.
Der Ex-Polizist richtete die beiden schließlich im Einkaufszentrum Tivoli in Wien-Meidling regelrecht hin. Karl inszenierte es als Notwehr, kam damit aber nicht durch. Er fasste 20 Jahre aus, trotzdem fühlte er sich weiter als Polizist. Er erstellte im „Häfn“ eine „Todesliste“ – an deren Spitze: Vergewaltiger. „Er spielte den Scharfrichter“, so Marschall, der in seinem „True-Crime“-Werk 14 Kriminalfälle vereint.
"I bins, dei Präsident"
Darunter auch solche mit klingenden Namen wie die „Fleischwolf-Mörderin“ oder die spektakuläre Festnahme dreier Gefängnisausbrecher, die den legendären Wiener Polizeipräsidenten Josef „Joschi“ Holaubek damals zum berühmt gewordenen Sager „I bins, dei Präsident“ verleitete.
Marschalls „Best-of“ zeigt eindrücklich, dass selbst die schlimmsten Verbrechen mit reinem Schwarz-Weiß-Denken nicht begreifbar sind. Umso passender, dass es zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotografien sind, die sein Buch von der aktuellen Vielzahl an Verbrechensnacherzählungen abheben. In monatelanger Archivrecherche hat der Oberösterreicher teils nie veröffentliche Fotos von Kriminalreportern zusammengetragen.
Die Aufnahmen stammen von der 1946 gegründeten, ehemaligen Pressebildagentur Votava, deren Schätze mittlerweile Teil des Archivs von „Brandstaetter Images“, dem größten privaten Fotoarchiv Österreichs, sind.
Dementsprechend ins Schwärmen gerät Archivleiter Gerald Piffl, wenn er das Buch durchblättert: „Die Bildrückseiten wurden von den Fotografen in Echtzeit beschriftet. Die Archivbilder samt dieser Zusatzinfos bilden eine Zeitkapsel von der Nachkriegszeit bis in die frühen 1980er.“
Marschall stimmt zu, ihm sei beim Schreiben wichtig gewesen, „Mysterien aufzuklären und Zusammenhänge herzustellen, die bisher noch niemand entdeckt hat“.
Mythen um einen Sprengstoff- und Waffenfanatiker
Das gelingt durchaus. „Lieblingsfall“ des Autors, der meint, dass genug Material für ein weiteres Buch da wäre, ist jener von Ernst Dostal. Ein Krimineller, der 1973 Österreich in Atem hielt. Die Fahndung nach dem Sprengstoff- und Waffenfanatiker endete nicht nur mit mehreren toten Unbeteiligten und verletzten Beamten, sondern auch mit dem angeblichen Suizid Dostals.
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Dieser galt allerdings stets als umstritten. „Notizen auf einem Foto nähren Spekulationen, dass Dostal vielleicht doch von einem Polizisten erschossen wurde“, schildert Marschall einen seiner Funde.
Clemens Marschall: „Tatort Wien: Verbrechen, Mord und Totschlag. Wahre Kriminalfälle“, Brandstätter Verlag, 192 Seiten, 25 Euro, erscheint am 30. Oktober 2023
70 Archivaufnahmen: Die Bilder im Buch stammen von einer ehemaligen Fotoagentur. Pressefotografen waren damals noch „hautnah“ am Geschehen
Beim Lesen der überraschend kurzweiligen 200 Seiten Kriminalgeschichte ist offensichtlich, dass sich der Autor bei den Nachforschungen nicht nur auf alte Fotos, Zeitungsartikel und Bücher beschränkt hat. „Gespräche mit Ermittlern, einem Unterwelt-Anwalt und einem Gerichtsmediziner haben geholfen, in das Milieu einzutauchen.“ Sogar bei dem einen oder anderen Polizeistammtisch, „wo die wirklich guten Geschichten erzählt werden“, war er dabei.
Ein Experte für Grenzgänger
Für den Chronisten ist es nicht das erste Mal, dass er in ein anderes Milieu eintaucht. In bisherigen Werken arbeitete die Kultur- und Sittengeschichte des Praters auf, erzählte von einer ehemaligen österreichischen Pornoproduktionsfirma und beschäftigte sich mit aussterbenden Beisln. Marschall ist zweifellos Experte für Grenzgänger und Geschichten, in denen es „menschelt“.
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Dass menschliche Begeisterung für wahre Verbrechen nichts Neues ist, zeigt seine jüngste Arbeit. Dem Autor zufolge hätte vor manchen der im Buch beschriebenen Prozesse Kirtagstimmung geherrscht: „Schaulustige haben sich ins Landesgericht gedrängt, in der Pause ging man auf Würstel und Bier.“
Es gibt nix, was es nicht gibt. Die Menschen sind grauslich und die gute alte Zeit gab es nie
Autor von "Tatort Wien"
Marschall, der von sich behauptet, kein Serienkiller-Fan zu sein, beschreibt in seinem Buch nüchtern und mit gewisser Distanz. Diese Distanz sei es auch, die die Menschen an vergangenen Fällen so fasziniere – denn sie kreiere Sicherheit.
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Dennoch: „Es sind grausame Fälle und traurige Schicksale. Ich habe das sehr ernstgenommen und wollte die Täter, die großteils selbst tragische Biografien hatten, keinesfalls verniedlichen.“ Er habe bewusst kein brutales „Revolverbuch“ geschrieben.
Marschall auf die Frage, ob er während des Schreibens etwas gelernt habe: „Es gibt nix, was es nicht gibt. Die Menschen sind grauslich und die gute alte Zeit gab es nie.“
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