Brennpunkt oder Familienbezirk? Die zwei Favoriten
Könnten es sich Sabine und Zorica aussuchen, würden sie nicht im 10. Bezirk leben. Es ist kurz nach 23 Uhr, die Frauen sitzen auf einer Bank in der Favoritenstraße und essen Burger. Danach geht es in ein Wohnheim für frühere Obdachlose in der Laxenburger Straße. Dort sind die beiden vorübergehend untergekommen.
„Freiwillig würden wir nicht nach Favoriten ziehen“, sagen sie. Es passiere einfach zu viel in diesem Bezirk: sexuelle Übergriffe, Streitereien (die manchmal auch mit Waffen ausgetragen werden), Pöbeleien. Erst am Nachmittag wurde Zorica von einem Mann gefragt, ob sie „eh keine Kurdin“ sei. Aber eine Wahl, die hätten sie und Sabine nicht.
Das Favoriten, von dem die beiden erzählen, ist ein dunkles Favoriten. Ein Bild, das sich in vielen Köpfen eingenistet hat. Denn Favoriten gilt (und zwar nicht erst seit der jüngsten Krawalle zwischen Linken und Kurden einerseits und rechtsextremen Austro-Türken andererseits) als Problembezirk.
Der Konflikt
In Favoriten trafen zuletzt unterschiedliche Kräfte aufeinander. Auf der gewaltbereiten Seite stehen nationalistische Türken und Sympathisanten der rechtsextremen Bewegung der „Grauen Wölfe“. Außerdem sind vermehrt Anhänger der türkischen Regierungspartei AKP in der Masse der Randalierer zu finden. Linke kurdische und türkische Demonstranten, sowie Unterstützer antifaschistischer Bewegungen bilden die Gegenseite. Kurden und linke türkischstämmige Demokraten gehören zum Feindbild türkischer Nationalisten, ebenso werden sie von den Grauen Wölfen angefeindet
Der Bezirk
In Favoriten lebten Anfang 2020 rund 207.000 Menschen, er ist der bevölkerungsreichste Bezirk Wiens. 37 Prozent der Bewohner sind keine österreichischen Staatsbürger (in ganz Wien sind es 30 Prozent). Hier leben mit Abstand die meisten Arbeitslosen, im Jahr 2019 hatten 17.375 Favoritner keinen Job. Das Jahreseinkommen beträgt im Schnitt nur 19.122 Euro. 2019 war Favoriten der Bezirk mit der höchsten Kriminalitätsrate
Weil dort so viele Straftaten angezeigt werden, wie sonst in keinem Stadtteil. Weil die Bewohner wenig verdienen und es der Bezirk mit den meisten Arbeitslosen Wiens ist. Und weil kaum ein Bezirk mehr multikulti ist.
Und dann gibt es noch das Favoriten, von dem wenig erzählt wird. Das Favoriten der neugebauten Wohnungen im Sonnwendviertel, des neuen – steril anmutenden – Hauptbahnhofes, der Kulturzentren (wie der Ankerbrot-Fabrik) und des Grüns (etwa am Wienerberg). Jenes Favoriten, das hell und freundlich ist – aber auch seine Schattenseiten hat.
Doch wie passt das zusammen?
Eine Spurensuche
Der Viktor-Adler-Markt ist gut besucht. Das gefällt Hakim, der mit Freunden in einem Lokal Kaffee trinkt. „Aus jedem Land der Welt leben Menschen hier“, sagt der Kurde begeistert. „Orient“, sagt einer seiner Begleiter leicht abfällig und verdreht die Augen.
Die Ausschreitungen der vergangenen Woche – als linke, pro-kurdische Demonstrationen von Erdoğan-Anhängern und rechtsextrem „Grauen Wölfen“ angegriffen wurden –, die passten nicht zu Favoriten, sagt Hakim. „Da waren auf beiden Seiten Vollidioten“, meint Yasin – ein Türke und der dritte in der Runde. Türken und Kurden würden sich verstehen, beteuern die beiden.
Und doch ist etwas im Bezirk anders geworden. Die Leute im Stadtteil hätten nun Angst, erzählt eine Wirtin. Das Viertel, das habe sich stark verändert: „Es gibt keinen Respekt mehr.“
Für einen Mann am Würstelstand ist das keine Besonderheit Favoritens: „Ein paar Wappler gibt es in jedem Bezirk“, sagt er. Er arbeitet hier – und kommt auch oft mit seiner Familie in den 10. (meistens zum Eisessen beim Tichy). Wegen der Straßensperren aufgrund der Demos habe man zuletzt aber kaum zufahren können. Inzwischen ist es ruhig geworden. Aber für wie lange?
Die Polizei lagert in der Gudrunstraße jedenfalls noch Tretgitter. Und aus einem Fenster des Ernst-Kirchweger-Hauses – das Ziel der Angriffe war – schaut ein Mann mit Sturmhaube. Man scheint Wache zu halten.
Ein paar Gehminuten weiter stehen bärtige Männer vor einer Moschee. In Gruppen ziehen junge Männer an ihnen vorbei durch die Gassen. Gesprochen wird türkisch oder arabisch, Halal-Kebab ist hier beliebter als McDonalds, und es wird mehr Red Bull getrunken als Alkohol.
Jugendliche mit wenig Perspektiven
Manche dieser Jugendlichen vertreiben sich die Zeit auch in einem der Jugendzentren. Leiterin Manuela Smertnik weiß, mit welchen Problemen sich die jungen Favoritner herumschlagen: „Hier leben viele junge Menschen mit geringen Aufstiegsmöglichkeiten“, sagt sie.
In der Krise hätte sich die Chancenungleichheit am Arbeitsmarkt und bei der Bildung zusätzlich verstärkt. Dazu kommen beengte Wohnverhältnisse: Vor allem im Inneren, „alten“ Teil des Bezirkes seien die Wohnungen sehr klein.
Trennlinie Gudrunstraße
Hinter dem Hauptbahnhof, im neuen Sonnwendviertel, kennt man solche Probleme weniger. An die 50er-Jahre-Bauten mit schmutzig-beiger Fassade an der Gudrunstraße schließen schicke Neubauten und ein großer Park an. Die Straße ist wie eine Trennlinie durch den Bezirk. „Das ist hier ein anderer Stadtteil – definitiv“, meint Sebastian, der in Richtung Laaer Berg wohnt. „Man merkt, dass ins Sonnwendviertel eher Bobos hingezogen sind.“
Die Entwicklung kann Spannungen nach sich ziehen, warnen Experten. „Der Prozess der Neubesiedlung muss begleitet werden“, sagt etwa der Soziologe Christoph Reinprecht von der Universität Wien. Etwa mit Instrumenten wie Stadtteilmanagement und Gebietsbetreuung. „Es geht darum, einen Rahmen zu schaffen, damit sich das Neue mit dem Alten verbinden kann“, sagt Reinprecht.
Im Helmut-Zilk-Park, der sich mitten im Sonnwendviertel befindet, scheint das nicht so schlecht zu gelingen. Denn Trennlinie oder nicht, die Gudrunstraße ist immerhin querbar. Und so kommen neben Jungfamilien aus dem neuen Grätzel auch Familien aus alten Bezirksteilen her. Abends, erzählen die Anrainer, würden Jugendliche im Park sitzen. Und auch, wenn sich diese manchmal daneben benehmen – Angst hätten die Leute nicht.
„Ich finde, hier ist eine super Mischung“, sagt Sabine. Sie ist mit ihrer Familie auf der Suche nach einer größeren Wohnung hergezogen. Ein Getto für Wohlhabende sei das Sonnwendviertel nicht. Vielmehr gewinne der Bezirk dadurch. Das sieht auch Hakim so. Er kann sich gut vorstellen, nach Favoriten zu ziehen. Völlig freiwillig.
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