"Was mich überraschte: die vielen weißen Männer"

Bestseller-Autorin Deborah Tannen war beim "Marsch auf Washington" dabei. Im KURIER-Interview erinnert sie sich.

Frau Tannen, 1955 wurde mit dem Montgomery Busboykott der Grundstein für die US-Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre gelegt. Können Sie sich daran erinnern?

An den Boykott im Speziellen nicht. Ich war gerade mal zehn Jahre alt. An die Empörung über die Rassendiskriminierung im Süden der USA kann ich mich aber sehr gut erinnern.

Sie sind in New York aufgewachsen. Wie haben Sie vom Busboykott erfahren?

Natürlich bekam man anfangs noch wenig mit, was unten im Süden geschieht. Aber als die ersten Zeitungen darüber berichteten, wuchs auch das Interesse und die Neugier. Wir fragten uns, was da in Montgomery passiert.

An was haben Sie gedacht, als immer mehr Afroamerikaner gegen die Rassendiskriminierung protestieren?

Es war gewaltig. Mit Montgomery und der gesamten Bewegung verbinde ich ein Gefühl der Solidarität mit den Schwarzen. Aber auch Bewunderung für den Mut der beteiligten Personen, die sich gegen diese Ungerechtigkeit eingesetzt haben.

Acht Jahre nach dem Busboykott waren Sie beim historischen "Marsch auf Washington" dabei.

Richtig. Damals sah ich aber noch keinen Unterschied zwischen dem "Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit" – wie er genannt wurde – und all den anderen Protestveranstaltung, bei denen ich dabei war.

"Was mich überraschte: die vielen weißen Männer"
WAS07:FEATURE:MEMPHIS,25MAR97 - TO MATCH STORY BC-KING-ANNIVERSARY -FILE PHOTO 28AUG63 - Dr. Martin Luther King, Jr. gives his "I have a dream" speech from the Lincoln Memorial during the march on Washington, August 28, 1963. Thirty years after an assassin's bullet killed King, the United States still struggles with a black-white racial and economic divide where progress is often in the eyes of the beholder. Today in Memphis Dr. King's most visible memorial is the motel where he was killed on the balcony outside Room 306. The complex is now part of the National Civil Rights Museum and a marble plaque in the parking lot below quotes Genesis 37:19-20: "Behold here comes the dreamer. Let us slay him." NO SALES. FOR ONE TIME EDITORIAL USE ONLY WITHIN 90 DAYS OF TRANSMISSION. cm/Photo by Corbis/BETTMANN-UPI REUTERS

Können Sie uns vom "Marsch auf Washington" mit Martin Luther King jr. an der Spitze erzählen?

Es war etwa 4:30 Uhr. Meine Mitbewohnerin vom College und ich mussten nach Harlem, um überhaupt erst nach Washington zu kommen – nicht die angenehmste Zeit für zwei weiße Mädchen. Doch als wir ankamen, trauten wir unseren Augen kaum: Auf beiden Seiten der 125th Street (Anm.: Martin Luther King jr. Boulevard) standen Busse, teils schon voll besetzt.

Wie war die Stimmung bei der Abfahrt?

Sehr gut, euphorisch kann man sagen. Wir warteten mit Abertausenden vor den Bussen. Als ich einstieg, fühlte ich: das wird etwas Großes. Etwas, woran wir glauben.

Und im Bus?

Ich kann mich noch gut an die flüsternden Stimmen erinnern. Sie sagten: 'Die Witwe des großen Schriftstellers Richard Wright sitzt im Bus.' Ich musste natürlich nachsehen und ging in den hinteren Bereich, wo ich Ellen Poplar dann tatsächlich traf.

Und?

Ich riskierte nur einen kurzen Blick und ging wieder nach vor - mehr traute ich mir damals nicht zu.

Mit dem Bus dauert die Fahrt von Harlem nach Washington mehrere Stunden...

Und dabei überholten wir viele andere Busse, die auf denselben Weg waren. Wir winkten ihnen zu. Was mir sofort aufgefallen ist: Die vielen weißen Männer aus der Arbeiterschicht.

Das hat Sie überrascht?

Naja, ältere weiße Herren gehörten nicht unbedingt zu jenen Menschen, die man auf Friedensdemonstrationen getroffen hat. Ich erinnere nur an die Veranstaltungen gegen den Vietnamkrieg. Oft waren es genau diese Männer, die sich gegen uns Demonstranten gestellt hatten und uns am liebsten nach Russland befördert hätten.

Mit diesen Männern marschierten Sie im August 1963 auf Washington zu.

Das war wirklich einmalig. An eine Situation kann ich mich besonders gut erinnern: Nach dem Marsch spazierte ich mit Freunden umher. Einige setzten sich auf den Rasen zwischen dem Lincoln Memorial und dem Washington Monument. Ich blieb stehen und sprach mit einem Freund, als ich plötzlich die Stimme von Martin Luther King jr. hörte.

Kings "I have a dream"-Rede...

Es war ganz still. Ich habe weder ihn noch einen anderen schwarzen Priester je sprechen gehört. Ich hatte ja keine Ahnung, dass King mit seiner Rede Geschichte schreiben wird.

An was haben Sie während der Rede gedacht?

An rein gar nichts. Ich war einfach nur überwältigt. Seine Worte haben mich so berührt, dass ich diesen Moment nie vergessen werde.

An was können Sie sich noch erinnern?

Als Peter, Paul und Mary mit ihren Gitarrenkoffern das Lincoln Memorial bestiegen. Und, dass ich mich in der Menge und meinen Bus verloren hatte.

Bei 250.000 Menschen kann das schon mal passieren.

Die Organisatoren warnten vor möglichen Gewaltausschreitungen. Doch ich bin immer davon überzeugt gewesen, dass alles friedlich ablaufen wird. Und so war es dann ja auch.

Ausschreitungen hat es aber gegeben. Zum Beispiel als Reformen nur zögerlich umgesetzt worden sind oder nach der Ermordung von Martin Luther King.

Die Rassenunruhen waren schrecklich. Sowohl nach Kings Tod als auch durch die Ideologie der Black Power-Bewegung. Es entstanden dann zwei Blöcke: King-Sympathisanten und Anhänger einer rein afroamerikanischen Gesellschaft.

Die US-Bürgerrechtsbewegung zerbröselte.

Als die Black Power-Community an Dynamik dazugewonnen hatte, waren Weiße in der Bewegung nicht länger willkommen. Die Solidarität zwischen Weiß und Schwarz war vollkommen verschwunden. Das war sehr bedauerlich.

Zur Person: Deborah Tannen wurde im Juni 1945 in New York geboren. Die Linguistin arbeitet an der Georgetown University und avancierte mit ihrem Buch "Du kannst mich einfach nicht verstehen. Warum Männer und Frauen aneinander vorbeireden" zur Bestseller-Autorin. Im Oktober hielt sie an der Universität Wien im Rahmen des Symposiums "Gender_Language_Politics" eine Keynote unter dem Titel "Beyond Sexism: Why Journalists always Write about Women's Hair and Clothes – and probably always will".

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