Spannungen in der Ostsee: Warum Russland Finnland militärisch ernst nehmen muss
Irgendwo zwischen ewigem Winter und Polarkreis verläuft die 1.344 Kilometer lange Grenzlinie, die Finnland immer wieder in nervöse Bereitschaft versetzt. Seit dieser Woche gibt es einen weiteren heiklen Konfliktherd zwischen Russland und Finnland, das mittlerweile ein NATO-Staat ist: Die Seegrenzen um russische Inseln im Osten des Finnischen Meerbusens sowie das Gebiet um die russische Exklave Kaliningrad, die die russische Regierung nach aktuellen Plänen verschieben wollte. Dies wurde zwar mittlerweile vom Kreml wieder dementiert – die Provokation rückte Finnland in den Fokus. Und was das dortige Heer zu leisten imstande ist.
Grundsätzlich kann Russland eine Seegrenzenverschiebung nicht unilateral durchführen, erklärt Clemens Binder, Politikwissenschaftler an der Universität Kopenhagen, gegenüber dem KURIER. Der Experte spricht von einer "Provokation" gegenüber den beiden NATO-Staaten Finnland und Litauen. Als russische Medien die Pläne leakten, reagierte der finnische Präsident Alexander Stubb unmittelbar. Die Regierung verfolge die Situation genau. Russland habe "in der Sache keinen Kontakt zu Finnland aufgenommen". Außenministerin Elina Valtonen rief Russland auf, sich an die Konventionen der Vereinten Nationen und an internationales Seerecht zu halten. Über russische Agenturen ließ der Kreml die Berichte dementieren, verwies aber auf zunehmende Spannungen in der Ostsee.
Seit 1917 ist Finnland von Russland unabhängig
Einen potenziellen, russischen Angriff fürchtet die finnische Regierung schon seit langer Zeit. Die Debatte um die Seegrenzverschiebung ist das mit Blick auf die Geschichte nur ein weiterer Tropfen auf dem heißen Stein. Für den Politikwissenschaftler Binder ist dies historisch sehr stark in der finnischen Erfahrung mit der früheren Sowjetunion begründet und "reicht von der Unabhängigkeit bis heute". 1917 hatte sich Finland von Russland losgelöst die Unabhängigkeit ausgerufen, wie Binder erklärt: "Auch der Winterkrieg 1939 und der Überfall auf die baltischen Staaten der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs haben eine ständige Gefährdung Finnlands in der Vergangenheit gezeigt". 1939 hatte die Sowjetunion das damals untermilitarisierte Land überfallen und große Gebiete erobert.
Für den Wissenschafter unterstreicht der Bau eines Grenzzauns an der finnisch-russischen Grenze, "welche wahrgenommene Bedrohung mitspielt". Im April 2023 präsentierte Finnland das erste drei Meter hohe Teilstück des Projekts, das laufend erweitert wird.
Seit 2023 ist Finnland auch Mitglied der NATO - eine Reaktion auf den Überfall Russlands auf die Ukraine. Für NATO-Kritiker Wladimir Putin eine Provokation - er hatte die Ukraine überfallen, als diese nicht von ihrem Ziel abrückte, ein NATO-Staat zu werden, womit das Verteidigungsbündnis direkt an Russland gegrenzt hätte. Nun hat Putin mit Finnland einen direkten NATO-Nachbarn. Im russischen Staatsfernsehen sprach er davon, dass sie (Anm. red. NATO-Mitglieder) Finnland in die NATO "gezerrt" hätten. Alle vorangegangen Probleme zwischen Russland und Finnland seien Mitte des 20. Jahrhunderts "bereits geklärt" worden: "Es gab keine Probleme, aber jetzt wird es Probleme geben". Als Antwort auf den NATO-Beitritt plante Putin den Leningrader Militärbezirk rund um Sankt Petersburg mit speziellen Militäreinheiten auszubauen. Die Stadt gilt geografisch als das Tor Russlands zu Europa.
Finnland und das hohe Militärbudget
Die über Jahrzehnte immer wieder auftauchenden Spannungen mit Russland haben sich in den militärischen Ausgaben des rund 5,5 Millionen-Einwohner-Landes niedergeschlagen. Bereits vor dem NATO-Beitritt 2023 waren diese (am Bruttoinlandsprodukt gemessen) höher gewesen als die von Deutschland. Zum Vergleich: 2022 lag das österreichische Verteidigungsbudget laut Statista bei 2,7 Milliarden Euro – jenes von Finnland bei 4,4 Milliarden Euro. Die Verteidigungsausgaben werden im finnischen Budgetplan als Priorität eingestuft: Bis 2027 will man sie um ganze zwei Milliarden Euro auffetten.
280.000 Soldaten sind in Kriegsreserve, 870.000 wären dienstpflichtig
Politikwissenschaftler Clemens Binder unterstreicht den hohen Stellenwert eines stark professionalisierten Militärs im skandinavischen Raum und hebt die Sonderrolle Finnlands in diesem Zusammenhang noch hervor. Finnland bildet laut Reuters jedes Jahr über 20.000 neue Wehrpflichtige aus, die dann Teil der derzeit rund 280.000 Soldaten umfassenden Kriegsreserve werden.
Die Dauer der Grundausbildung beläuft sich auf sechs Monate bis zu einem Jahr. Auch jährliche, verpflichtende Auffrischungskurse gibt es, zu denen im Rotationsprinzip Reservisten einberufen werden. Im Falle eines Krieges wären dann etwa 870.000 Finnen dienstpflichtig.
Die hohen Staatsausgaben für die Verteidigung Finnlands gelten dem russischen Nachbarn. Dabei hatte man auf Entspannung gehofft, wie Außenministerin Elina Valtonen In einem Interview mit dem ZDF erklärte. In den vergangenen 20 Jahren habe es Hoffnung gegeben, dass sich Russland zu einer "richtigen Demokratie" entwickle. Diese Erwartung habe in den letzten zehn Jahren aber immer mehr abgenommen: "Aus diesem Grund haben wir immer in unsere eigene Abschreckung, in unsere eigene glaubwürdige Verteidigung investiert. Wir haben die allgemeine Wehrpflicht nie abgeschafft und jetzt hat es sich herausgestellt, dass das gut war."
Finnlands Heer zeichnet sich laut Reuters durch die stärkste Artillerie Westeuropas aus, die rund 1.500 Waffen wie Kanonen, Haubitzen sowie schwere und leichte Raketenwerfer umfasst. Die Bodentruppen verfügen über etwa 650 Panzer, etwa 200 davon vom deutschen Fabrikat Leopard.
Bunker? Unterirdische Sportplätze!
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist die Verunsicherung auch in der Bevölkerung Finnlands spürbar. Private Schießkurse und Schießveranstaltungen sind regelmäßig ausgebucht. Im Zivilschutz hat das Land aber gut vorgesorgt – alleine in Helsinki gibt es mehr Plätze in Schutzbunkern, als die Stadt Einwohnerinnen und Einwohner zählt. Zusätzlich sind diese Felsenbunker mit unterirdischen Sportplätzen und anderen Annehmlichkeiten für den Ernstfall vorbereitet.
Ein Akt "hybriden Krieges"
Finnland lässt Vorsicht walten: Die bis November 2023 gut frequentierten Grenzübergänge sind mittlerweile vollständig geschlossen, Visa werden dort ebenfalls nicht mehr vergeben. Dabei war Finnland nach Zahlen der Bundeszentrale für Politische Bildung aus 2010 das Land, das Russinnen und Russen mit Abstand die meisten Schengen-Visa ausstellte. Politikwissenschaftler Binder sieht Migration auch als Instrument der Aggression Russlands gegen Finnland, um das Land zu destabilisieren. Für Finnland ein Akt eines "hybriden Krieges", wie Außenministerin Valtonen erklärte.
Frontex schickte erst vor kurzem Grenzpolizisten an die finnisch-russische Grenze, um das Land zu unterstützen. Im April kündigten finnische Vertreter noch an, dass die lange Grenze zu Russland auch in Zukunft geschlossen bleiben wird. Binder erklärt, dass es sich hier gleichzeitig um eine EU- als auch um eine NATO-Außengrenze handelt, was dies "in der Gegenwart sehr zentral und spannend" macht. So sind weltpolitisch momentan viele Augen auf Finnland und Litauen gerichtet.
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