Vor einem Jahr begann der Corona-Albtraum in Italien
Vor einem Jahr begann es: In einem Krankenhaus der lombardischen Provinzstadt Codogno wurde am 20. Februar "Patient 1", der erste an Corona infizierte Italiener, getestet. Der 38-jährige Manager wurde in kritischem Zustand eingeliefert. Einen Tag später starb ein 78-jähriger Pensionist in Vo Euganeo bei Padua als erster Europäer am Virus. Italien stürzte in einen Albtraum, aus dem das Land immer noch nicht erwacht ist.
2,7 Millionen Infizierte, fast 95.000 Todesopfer und ein Wirtschaftseinbruch, wie er seit der Nachkriegszeit nicht mehr vorgekommen ist: Italien, das erste westliche Land, in dem die Epidemie ausbrach, zahlt einen gewaltigen Preis. Als erster Staat in Europa begann die Regierung, große Teile der Lombardei und Venetiens in der Hoffnung abzuriegeln, die Epidemie einzudämmen.
Am 9. März verordnete Premier Giuseppe Conte einen landesweiten Lockdown, ein präzedenzloser Schritt. 60 Millionen Italiener mussten zwei Monate zu Hause bleiben. Die Wirtschaft des Landes kam mit Ausnahme einiger lebensnotwendiger Bereiche zum Erliegen. Erst ab 4. Mai wurden die Maßnahmen ein wenig gelockert.
38-Jähriger als "Patient Nummer 1"
Einer 38-jährigen Anästhesistin im Krankenhaus der Kleinstadt Codogno, Annalisa Malara, verdankt Italien, dass die Infektion am 20. Februar erkannt wurde - als in Europa noch niemand an Corona dachte. Bis dahin betrachtete man das Virus als rein chinesisches Problem. Malara beharrte jedoch darauf, den Patienten mit einer auffällig schweren Lungenentzündung zu testen. Dieser war positiv, der 38 Jahre alte Mattia Maestri wurde zu Italiens "Patient Nummer 1". 20 Tage verbrachte der sportliche Manager im Koma. Er hatte keinerlei Kontakte zu China und bis heute ist unklar, wie er sich mit dem Coronavirus angesteckt haben könnte.
"Ich konnte die Erde nicht verlassen, während sie auf die Welt kam"
"Ich war bewusstlos, manchmal träumte ich, ich weiß aber nicht mehr was. Ich litt nicht: Ich hatte jedoch den klaren Eindruck, dass dieser Friede der Vorraum des Todes war", sagte der Mann, der kurz nach seiner Genesung erstmals Vater geworden war. Seine Frau Valentina, die sich ebenfalls infiziert hatte, brachte am 7. April Tochter Giulia zur Welt. "Ich denke, dass die bevorstehende Geburt Giulias meine physischen Energien vervielfacht hat. Ich konnte die Erde nicht verlassen, während sie auf die Welt kam", meinte Maestri. Doch das Glück für die Familie war nicht vollkommen: Am 19. März starb Maestris 62-jähriger Vater Moreno am Coronavirus.
Wie sich der "Patient 1" infiziert hat, ist ein Jahr nach Ausbruch der Epidemie immer noch ein Rätsel. "Das Virus hat mich erwischt, ich konnte nichts tun, um das zu verhindern. (...) Am 20. Februar war noch niemand in Europa offiziell an Covid-19 erkrankt. Ich war jung und sportlich, schwebte jedoch in Lebensgefahr", sagte Maestri. Dies habe bei der Anästhesistin Malara den Verdacht geweckt, dass er sich mit dem neuartigen Virus angesteckt haben könnte. "Diese Entdeckung hat nicht nur mich gerettet. Von diesem Moment an wurde bei Tausenden Menschen das Virus diagnostiziert. So konnten viele rechtzeitig behandelt werden", so Maestri, der inzwischen wieder vollkommen gesund ist.
Die Lombardei, die am stärksten von der Epidemie betroffene Region Italiens, erlebte dramatische Zeiten. Am 18. März zeigten Medien Bilder von Militär-Lastwagen, die vom Friedhof der Stadt Bergamo aus Dutzende Särge von Covid-19-Opfern zu Krematorien anderer Regionen brachten. Tagelang war die Kapazität der Leichenhalle in Bergamo völlig ausgeschöpft. Der 18. März ist inzwischen zum nationalen Gedenktag an die Corona-Toten erklärt worden.
"Bergamo war die italienische Stadt, die am stärksten von der ersten Welle der Coronavirus-Epidemie betroffen war. Es geschah plötzlich, als sich keiner von uns so etwas vorstellten konnte. Allein in der Stadt zählten wir fast 700 Todesopfer, 6.000 in der gesamten Provinz", erinnerte sich der Bürgermeister von Bergamo, Giorgio Gori. Fast jeder habe in diesen dramatischen Tagen mindestens einen Angehörigen, Freund, oder Bekannten verloren.
Zweite Welle im Herbst
Ein Jahr später sieht Italien immer noch kein Licht am Ende des Tunnels. Nachdem im Sommer die Auflagen gelockert wurden, kam es zu einer zweiten Infektionswelle im Herbst. Diesmal wurde kein gesamtstaatlicher Lockdown verhängt. Die Regierung beschloss die Einführung eines Ampelsystems, mit dem in den 20 Regionen je nach Infektionszahlen unterschiedliche Maßnahmen ergriffen wurden. In mehreren Gebieten kam es zu Teil-Lockdowns, die sich über die Weihnachtszeit hinaus erstreckten. Am 27. Dezember begann eine Impfkampagne, bisher erhielten fast drei Millionen Menschen die ersten Dosis.
Italien bekam auch die wirtschaftlichen Folgen der Lockdowns zu spüren. Vor allem Einzelhandel, Gastronomie, Tourismus, Freizeitindustrie und Kultur kamen zum Erliegen. Um zehn Prozent brach die Wirtschaftsleistung 2020 ein. Die Regierung verabschiedete zwar Maßnahmen in Höhe von über 100 Milliarden Euro, und mit einem bis März laufenden Kündigungsverbot für Unternehmen und staatlich subventionierte Kurzarbeit konnte eine massive Kündigungswelle verhindert werden, doch die Folgen sind trotzdem dramatisch.
Während die Menschen verbittert um ihre Zukunft kämpfen, stürzte Mitte Jänner die Regierung um Premier Giuseppe Conte im Streit um die Nutzung der milliardenschweren EU-Gelder aus dem Wiederaufbauprogramm "Next Generation". Vor drei Wochen musste der Ministerpräsident zurücktreten. Mit der Regierungsbildung wurde der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, beauftragt. "Mister Euro" stellte vergangene Woche eine Regierung aus Politikern und Fachleuten auf die Beine. Draghi steht jetzt die heikle Aufgabe bevor, das Land aus der Pandemie und der Wirtschaftskrise zu führen. Ganz Italien vertraut auf "SuperMario", wie der neue Premier von Medien gern genannt wird. "Draghi hat den Euro gerettet, er wird auch Italien retten", lautet das Credo vieler Italiener. Ob ihm dies wirklich gelingt, werden die nächsten Monate zeigen.
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