Auch Regionalwahlen letzte Woche unterstrichen, wie gespalten das Land ist: Zugewinne verzeichneten die jeweils regierenden Parteien – Johnsons konservative Tories in England, die Labour Partei in Wales, und die nach Unabhängigkeit und zurück in die EU strebende SNP in Schottland. Vor allem letzteres erhöht den Druck auf die ohnehin schon wankende Union. „Kann Boris Johnson vermeiden, der Premier zu werden, der Schottland verliert?“ fragte der Independent.
In einem Plebiszit im Jahr 2014 hatten 55 Prozent der Schotten für den Fortbestand der seit 1707 bestehenden Union gestimmt. Aber im letzten Jahr schnellte die Unterstützung für eine Abspaltung auf neue Rekordwerte. „Interesse an der Unabhängigkeit ist wegen Brexit und Covid gestiegen, weil beide die wahrgenommene Kluft zwischen dem, was gut für Schottland ist, und dem, was die britische Regierung tut, hervorgehoben haben“, erklärt Robert Johns, Politologe an der Universität Essex, dem KURIER.
Da Gesundheitsthemen von den Landesteilen entschieden werden, konnte die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon in der Pandemie ihr Talent für Krisenmanagement beweisen, für das sie oft bessere Noten als Johnson bekam. Sturgeons SNP verpasste bei der Wahl zwar eine absolute Mehrheit im Regionalparlament in Edinburgh um einen Sitz, hat diese aber zusammen mit den Grünen, die auch die Unabhängigkeit fordern. Die SNP signalisierte, sie könnte ein zweites Referendum schon 2022 einleiten; der im Norden besonders unpopuläre Johnson lehnt das bisher ab.
„Die einzigen, die über die Zukunft Schottlands entscheiden können, sind die Schotten“, kritisierte Sturgeon. Die Frage sei nicht ob, sondern wann. Johnson stimmte aber in seinem Gratulationsbrief an sie versöhnlichere Töne an. „Es ist meine leidenschaftliche Überzeugung, dass den Menschen im Vereinigten Königreich, und besonders in Schottland, am besten geholfen ist, wenn wir zusammenarbeiten“, schrieb er. Wie etwa beim Impfprogramm. „Das ist Team Vereinigtes Königreich in Aktion“, warb Johnson. Im Unterhaus betonte er diese Woche die über 474 Milliarden Euro, die London in der Pandemie in den Schutz von Arbeitsplätzen, „darunter jeden dritten in Schottland“, und Unternehmen gesteckt habe. „In all ihren Jahrhunderten hat sich die Union selten deutlicher bewährt“.
Tatsächlich sind sich Johnson und Sturgeon in einem Punkt einig: Priorität müssen der Kampf gegen die Pandemie und der Aufbau nach der Krise haben. So lud der Premier sie und die Regierungschefs von Wales und Nordirland zu einem Gipfel ein, um „im Geiste der Einheit und Zusammenarbeit“ über „gemeinsame Herausforderungen“ und „geteilte Verantwortung“ zu beraten.
Den Worten sollen Taten folgen. Aufholbedarf bei Krebsbehandlungen und Schwierigkeiten mancher Schüler wegen der Pandemie: Bereiche, wo man Schottland unter die Arme greifen will. Und milliardenschwere Investitionen sollen in schottische Infrastrukturprojekte fließen. Stuart, ein in London lebender Schotte, erzählt dem Kurier, dass das bei so manchen Freunden in der Heimat, die zur Unabhängigkeit neigen, einen Nerv treffen könnte. „Viele sind vorsichtig, weil Schottland auf Geld von Westminster angewiesen ist“, sagt er. „Manchmal will das Herz unabhängig sein, aber nicht das Gehirn“.
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