SOS-Kinderdorf: Serie an Vorwürfen nimmt kein Ende
Zusammenfassung
- Auch im SOS-Kinderdorf Nussdorf-Debant berichten ehemalige Bewohnerinnen von Gewalt, Missbrauch und strukturellen Übergriffen in den 1990er-Jahren.
- Es ist bereits der achte Standort der Organisation, der von Gewaltvorwürfen betroffen ist.
- Die Organisation räumt Missstände ein, entschuldigt sich öffentlich und rechnet mit weiteren Fällen aus der Vergangenheit, während Ermittlungen bisher nur andere Standorte betreffen.
- Betroffene fordern umfassende Aufarbeitung, bessere Kontrolle und Unterstützung, da viele Fälle bislang nicht gemeldet oder aufgeklärt wurden.
Erst vor wenigen Tagen hatte der Leiter des SOS-Kinderdorf-Standorts Nussdorf-Debant in Osttirol im Gespräch mit der Tiroler Tageszeitung mit der Krise seiner Organisation gehadert: „Das Bild, das wir von unserer Einrichtung hatten, wurde zerstört. Das zu verkraften ist nicht leicht.“
Aber in Osstirol werde das Kinderdorf, das er seit 2014 leitet und in dem er seit 1998 arbeitet, dennoch positiv wahrgenommen, auch bei den Behörden genieße man Vertrauen.
Nun ist auch der Standort Nussdorf-Debant und damit ein zweites Tiroler SOS-Kinderdorf von Misshandlungsvorwürfen betroffen. Zwei Frauen, die in den 1990er-Jahren dort ihre Kindheit verbrachten, haben sich nach jüngsten Medienberichten über Übergriffe in mehreren SOS-Kinderdörfern in Österreich an die APA gewandt.
Sie berichten über erlebte und von ihnen wahrgenommene strukturelle, auch sexualisierte Gewalt. "Es würde mich wundern, wenn es in einem SOS-Kinderdorf keine Gewalt oder Missbrauch gegeben hätte. Das geschlossene, patriarchale System in der Vergangenheit war der Nährboden dafür", berichtete eine Frau, die ab 1994 zehn Jahre im SOS-Kinderdorf Nussdorf-Debant aufwuchs.
Ihren Schilderungen zufolge kam es zu Gewalt durch Erwachsene - auch durch den damaligen Dorfleiter, der in der Region hoch angesehen war und bis zu seiner Pensionierung mehr als 20 Jahre die pädagogische und administrative Verantwortung für den Standort inne hatte.
Betroffene: Dorfleiter übte bei Regelverstößen Gewalt aus
"Ich war häufig betroffen. Ich galt als rebellisch, weil ich etwa meine Rechte einforderte. Immer wieder kassierte ich vom Dorfleiter eine Watsche", erinnert sich die Frau. Diese Übergriffe hätten oft vor anderen Kindern stattgefunden, "um ein Exempel zu statuieren".
Misshandlungen
Im September berichtet der „Falter“ erstmals über Misshandlungen im SOS-Kinderdorf in Moosburg. Zudem wurden Vorfälle in Imst, Seekirchen, Stübing, Hinterbrühl, Altmünster und nun auch in Osttirol bekannt.
Hermann Gmeiner
Am 23. Oktober gab die Organisation bekannt, dass ihr Gründer acht Buben sexuell missbraucht haben soll, die Opfer wurden mit bis zu 25.000 Euro entschädigt.
Großspender
Wenige Tage später berichtet der „Falter“ über einen (mittlerweile verstorbenen) Großspender aus NÖ, der Buben in Nepal missbraucht haben soll. Offenbar im Wissen des damaligen Präsidenten Helmut Kutin und des Geschäftsführers Christian Moser.
Die zweite, jüngere Frau, die auch in den 1990-er Jahren im Osttiroler SOS-Kinderdorf aufwuchs, bestätigt das. Dazu sei es gekommen, "damit jedes Kind weiß, was ihm blüht, wenn es nicht brav ist, Fehler macht oder sich nicht an die Regeln hält."
Der Dorfleiter hätte Kinder an den Ohren oder Haaren gezogen, "wenn sie sich nicht an seine Regeln gehalten haben." Auch einzelne Kinderdorf-Mütter hätten Gewalt ausgeübt, vertrauten die beiden Betroffenen der APA übereinstimmend an.
Ihre Kinderdorf-Mutter sei „Teil eines Systems“ gewesen, „das von patriarchalen Strukturen geprägt war. Der Dorfleiter hat die Regeln bestimmt. Dieses Machtgefälle hat viele zum Schweigen gebracht – auch Erwachsene, die eigentlich helfen wollten“, so die Jüngere. Sie berichtet zudem: „Zwei sogenannte Hausbrüder haben mich über Jahre hinweg sexuell belästigt.“ Konsequenzen für die Täter habe es keine gegeben. In den von Kinderdorf-Müttern geführten „Familien“ waren die sogenannten Geschwisterkinder bunt zusammengewürfelt.
„Bei sexueller Gewalt unter Kindern wurde weggeschaut“, pflichtete die ältere Frau den Schilderungen der jüngeren bei. Die Opfer hätten keinerlei Unterstützung erfahren: „Sie mussten weiterhin mit den Tätern unter einem Dach leben.“
Weitere Fälle erwartet
Das SOS-Kinderdorf Nußdorf-Debant ist nach dem Gründungsstandort Imst im Tiroler Oberinntal das zweitälteste Kinderdorf in Österreich. „Das Leid, das die jungen Menschen in der Betreuung von SOS-Kinderdorf erfahren haben, macht uns tief betroffen, und wir wollen uns aufrichtig dafür entschuldigen“, reagierte SOS-Kinderdorf auf die Vorwürfe. Man rechne „mit weiteren Fällen aus der Vergangenheit – und das ist wichtig und gewollt. Alles muss auf den Tisch, jeder einzelne Fall soll aufgeklärt werden. Nur so können wir einen echten Neuanfang gewährleisten.“
Bei einer der seinerzeit am Standort Nußdorf-Debant untergebrachten Betroffenen dürfte auch das zuständige Jugendamt der gesetzlich vorgeschriebenen Kontrollfunktion nicht im nötigen Ausmaß nachgekommen sein.
Wie die jüngere Frau später aus ihrer Akte erfuhr, forderte das Jugendamt in Innsbruck erst nach sechs Jahren erstmalig vom SOS-Kinderdorf einen Bericht an, um überhaupt feststellen zu können, ob das Kindeswohl des fremduntergebrachten Mädchens gewährleistet war.
Den beiden Frauen, die nun mit ihren Erlebnissen im Kinderdorf Nußdorf-Debant an die Öffentlichkeit gingen, „geht es nicht um Rache. Sondern darum, dass niemand mehr so allein gelassen wird“, betont die Jüngere. Der Standort in Osttirol ist nun bereits der achte, an dem es zu Übergriffen gekommen sein soll
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