Zu viel Zeit im Internet: Wenn soziale Medien süchtig machen
Es ist verführerisch: Stundenlang durch eine Welt zu surfen, die mithilfe von allerlei Filtern geschönt ist, in der selbst Alltägliches perfekt inszeniert ist, in der man das nächste interessante Video keinesfalls verpassen möchte. Da das Internet unerschöpflich ist und der Algorithmus unermüdlich Beiträge vorschlägt, die einen länger an den Bildschirm fesseln sollen, sind schnell ein paar Stunden Lebenszeit vorbei.
Doch was, wenn man sich zusehends im Netz verliert?
Noch ist Social-Media-Sucht kein anerkanntes Krankheitsbild. „Ich bin aber überzeugt, dass das kommen wird“, erklärt Roland Mader. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Experte für Internet- und Spielsucht am Anton-Proksch-Institut in Wien.
Internetsucht gibt es seit Jahrzehnten
Internetsucht, erklärt Mader, gebe seit den Anfängen des Internets: Schon in den 1990er-Jahren gab es etwa Patienten, die süchtig nach Chatrooms waren.
Heutzutage sind rund 5,75 Millionen Österreicher täglich online, 4,4 Millionen nutzen Social Media. Je größer das Angebot, desto höher die Zahl der Süchtigen – auch wenn bisher noch keine genauen Zahlen dazu erhoben wurden.
Seiner Erfahrung nach seien Burschen eher für Online-Spiele anfällig, so Mader: „Da basteln sie sich einen heldenhaften Avatar und bekommen für ihre Spielleistungen Anerkennung.“ Mädchen seien eher in sozialen Medien aktiv: Ähnlich einem Avatar, könne man mit geschöntem Profilbild eine attraktivere, jüngere, erfolgreichere Version seines Selbst erschaffen.
Darum sind "Likes" so verführerisch
Zustimmung wird im virtuellen Raum meist in Form von „Likes“ ausgedrückt. Erhält man ein „Like“, werden im Gehirn Glückshormone ausgeschüttet. „Dieses Gefühl will man wieder erleben“, erklärt Mader. Dazu reichen bald aber nicht vier "Likes" von den besten Freundinnen – dazu braucht es mehr. Gerade diese Jagd nach „Likes“ kann in Stress ausarten – und viel Lebenszeit kosten.
Doch wann wird der Konsum sozialer Medien bedenklich?
„Wenn das Leben in der realen Welt leidet“, erwidert der Experte. „Wenn man seine Freunde seltener sieht und diese sich schon beschweren. Oder man Arbeit oder Hobbys vernachlässigt.“ Oft sei eine Wesensveränderung merkbar: „Soziale Medien machen nicht glücklich – im Gegenteil. Denn die anderen scheinen immer erfolgreicher und attraktiver zu sein als man selbst.“
Das könne zu Gereiztheit, Angst, Zurückgezogenheit und auch zu Depressionen führen.
Bei jungen Frauen ließ sich außerdem ein Zusammenhang zwischen exzessiver Social-Media-Nutzung und Essstörungen beobachten: Laut einer Studie gaben 64 Prozent der Betroffenen, die an einer Essstörung litten, an, Instagram habe eine wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt.
Virtuelle Freunde ersetzen reale Freunde nicht
Generell könne ein virtueller Freundeskreis Kontakt mit realen Freunden nicht ersetzen: Denn „soziales Leben muss man lernen“, betont der Experte. Das passiere in der Schule, zu Hause, mit Freunden – aber nicht hinter dem Bildschirm. „Dort fehlt die Empathie, dort lernt man nicht, die Mimik seines Gegenübers zu lesen.“
Wer suchtgefährdet ist
Wer zu viel online ist, laufe Gefahr, das reale Leben zu verlernen: „Und je länger man weg ist, desto schwerer fällt der Wiedereinstieg.“ Umgekehrt gilt aber auch: Je besser man das soziale Leben bereits gelernt hat, umso weniger ist man suchtgefährdet.
Daher sind es eher Jüngere, die zu sehr in Social Media hineinkippen. Untersuchungen zeigen übrigens, dass Erwachsene mit vielen Online-Freunden meist auch viele Kontakte im realen Leben haben. Bei Jungen ist es häufig umgekehrt: Je mehr virtuelle Freunde, desto weniger im echten Leben.
Soziale Medien: Bei Älteren ist Facebook am beliebtesten, Jüngere zieht es vor allem zu Instagram, Tiktok und Youtube
Hinweise auf Social-Media-Sucht können etwa ein Kontrollverlust (immer häufigere Social-Media-Nutzung), negative Auswirkungen auf Schule und Beruf, Konflikte mit Bezugspersonen oder sozialer Rückzug sein.
Hilfe bieten zum Beispiel die Experten des Anton-Proksch-Instituts. Info: www.api.or.at
Was kann man also tun, wenn man von sozialen Medien nicht mehr lassen kann?
Was Betroffene tun können
Wichtig sei ein „behutsames Zurückführen in die reale Welt“, ebenso wie eine vorübergehende Abstinenz oder zumindest eine Cool-down-Phase. „Wenn soziale Ängste oder Selbstwertprobleme dahinter stehen, gehören diese auch behandelt“, so Mader.
Eine völlige Abstinenz sei oft nicht möglich, da Social Media etwa auch in manchen Jobs genutzt werden müssen. Es sei aber möglich, einen zeitlich beschränkten, sorgsamen Umgang zu erlernen. Eine halbe Stunde am Tag etwa gelte als ungefährlich.
Plattformen wie Facebook können freilich auch bereichern, da man etwa Freunde wiederfinden oder über große Distanzen mit Menschen in Kontakt bleiben kann. Mader betont: „Es ist aber kein Ersatz für das reale Leben – in dem Gott sei Dank nicht immer alles perfekt ist.“
Buchtipp: Roland Mader, Oliver Scheibenbogen: „Always On. Verführung und Gefahr digitaler Medien“, Facultas/Maudrich. 200 Seiten. 23,50 Euro
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