Wie ein ehemaliger Kindersoldat den Weg in ein neues Leben schaffte

Ishmeal Alfred Charles aus Sierra Leone
Der KURIER sprach mit Ishmeal Alfred Charles. Im Alter von neun Jahren wurde er in Sierra Leone entführt, mit 14 gelang ihm die Flucht. Heute setzt er sich als Helfer für andere ein.

„Wo sollen wir deinen Arm abhacken? Short sleeve or long sleeve – langer oder kurzer Ärmel: Wie viel soll vom Arm übrig bleiben?“

Das ist eine der Fragen, die der 14-jährige Ishmeal Alfred Charles von seinen Entführern hört. Er steht in einer Reihe mit anderen Buben, denen die Rebellen drohen, einen Körperteil abzuhacken. Es ist die Strafe dafür, dass er versucht hat, zu fliehen. Plötzlich ertönt der Lärm eines Helikopters, die Rebellen beginnen auf diesen zu schießen. In diesem Durcheinander gelingt es Charles, zu flüchten.

Zu einem Dasein als Kindersoldat gezwungen

In den 1990er-Jahren herrschte Bürgerkrieg im westafrikanischen Sierra Leone. Die Kämpfer verschleppten auch zahllose Kinder und zwangen sie zu einem Dasein als Kindersoldaten. Ishmeal Alfred Charles wurde 1992 im Alter von neun Jahren entführt – erst fünf Jahre später sollte ihm die Flucht gelingen.

Nun hat er ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben und im Eigenverlag veröffentlicht. Nicht nur, um alles zu verarbeiten – vor allem, um anderen „Hoffnung und Mut“ zu geben, wie er betont. Unter dem Titel „Vom Kindersoldaten zur humanitären Berufung“ ist es nun auf Deutsch erschienen (bei Thalia etwa um 14 Euro). Auf Einladung von „Jugend eine Welt“ war Charles unlängst in Österreich, um sein Buch vorzustellen .

Wie ein ehemaliger Kindersoldat den Weg in ein neues Leben schaffte

Ishmeal Alfred Charles mit seinem Buch in deutscher Übersetzung bei seinem Besuch in Wien.

Über die Grausamkeiten, die er damals erleben musste, möchte er nicht mehr im Detail sprechen. „Den Grad der Verrücktheit kann man sich gar nicht vorstellen“, sagt er. Viele der Kinder wurden unter Drogen gesetzt und zu Gewalttaten gezwungen. Er selbst habe sich im Umgang mit Waffen absichtlich ungeschickt angestellt, daher wurde er stattdessen dazu auserkoren, die Beute von Plünderungen kilometerweit durch das Land zu schleppen.

Seine Mutter suchte ihn jahrelang

Seine Mutter habe lange nicht gewusst, ob er noch am Leben sei: „In Spitälern wurden damals Fotos von Menschen aufgehängt, denen Gliedmaßen abgehackt wurden oder die getötet worden waren“, erzählt Charles. Jahrelang habe sie ihn dort gesucht.

Wie ein ehemaliger Kindersoldat den Weg in ein neues Leben schaffte

Im Interview mit dem KURIER erzählte Ishmeal Alfred Charles, wie er es schaffte, seinen Entführern zu entkommen, und warum er ein Buch geschrieben hat.

Als er endlich in Freiheit war, riet ihm seine Mutter zuerst davon ab, über seine Erlebnisse zu sprechen. 

Wie er das lange Schweigen durchbrach

„Sie hatte Angst, dass ich dann stigmatisiert bin. Dass mich alle nur fragen, wie viele Menschen ich getötet habe.“ Erst als ihn 2012 ein Priester fragte, wo er während des Bürgerkriegs gelebt habe, brach die Geschichte aus ihm heraus. 2017 begann er schließlich, seine Erlebnisse mithilfe seiner Frau aufzuschreiben.

"Ein Zeichen, mich für andere einzusetzen"

Mit seinem Buch, sagt Charles, wolle er zeigen, dass man selbst große Schwierigkeiten meistern kann. „Und dass man nicht auf die hören soll, die sagen, man kann etwas nicht.“ Er habe immer davon geträumt, Arzt zu werden. „Da wir arm waren und ich so lange entführt war, ging das nicht.“ Doch er schloss die Schule ab und arbeitet nun im humanitären Bereich. „Denn dass ich all das überlebt habe, sehe ich als Zeichen, mich für andere einzusetzen.“

So engagiert er sich etwa für den Wiederaufbau eines Spitals für Kinder und Schwangere. Vor allem aber möchte er, dass nachfolgende Generationen aus der Geschichte lernen: „Krieg ist nie die Lösung. Darunter leiden immer Unschuldige. Bei uns sagt man: Die Elefanten kämpfen – aber das Gras leidet.“

Wie ein ehemaliger Kindersoldat den Weg in ein neues Leben schaffte

Wie ein ehemaliger Kindersoldat den Weg in ein neues Leben schaffte

Zehntausende Kinder dürften weltweit zu einem Dasein als Kindersoldat gezwungen sein.

Hintergrund: Zehntausende Kinder werden weltweit jedes Jahr von bewaffneten Gruppen entführt 

Millionen Kinder weltweit werden in Konfliktgebieten geboren. Sie leben in Angst, häufig werden sie auch verletzt, bedroht oder verstümmelt. 
Oder sie  werden rekrutiert, um anderen genau diese Grausamkeiten anzutun: Armeen sowie bewaffnete Gruppen entführen immer wieder Kinder, um sie für ihre Zwecke zu missbrauchen. Zehntausende Kinder und Jugendliche dürften jährlich  betroffen sein. Genaue Zahlen sind schwer zu eruieren, da die Rekrutierung meist in schwer zugänglichen Kampfgebieten erfolgt.   

Sie werden nicht nur zum Kampf gezwungen

Die entführten Mädchen und Buben werden nicht nur zum brutalen Kämpfen gezwungen. Die UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, weist darauf hin, dass der Begriff „Kindersoldat“ insofern irreführend sein kann: So werden die Minderjährigen von den bewaffneten Gruppen etwa auch zu Botengängen, Wachdiensten oder anderen Hilfsarbeiten gezwungen. Manche kommen gar als Selbstmordattentäter zum Einsatz, andere werden als menschliche Schutzschilde missbraucht. Mädchen wiederum werden oft zu sexuellen Diensten gezwungen oder zwangsverheiratet.

Daher verwendet die UNICEF den freilich etwas sperrigen Begriff „Kinder, die von Armeen oder bewaffneten Gruppen rekrutiert und eingesetzt werden“

Traumata prägen den weiteren Lebensweg

Laut einem Bericht des Spiegel laufen vor allem Kinder in Afghanistan, Syrien, dem Jemen, auf den Philippinen oder im Irak Gefahr, als Soldaten rekrutiert zu werden. Auch in Somalia, im Sudan, in Kamerun, Libyen, der Demokratischen Republik Kongo oder auch Nigeria ist die Gefahr sehr hoch. 

Selbst wenn die Kinder wieder frei kommen, prägen meist die erlittenen Traumata den weiteren Lebensweg der Opfer. Manche werden von ihren Familien verstoßen, da sie in ihren Dörfern als Mörder angesehen werden. Viele leiden an gesundheitlichen Problemen, oft wird Drogenmissbrauch zum Problem. 

Mehrstufiges Programm für befreite Kinder

Laut UN-Jahresbericht konnten im Jahr 2021 durch die Vermittlung der Vereinten Nationen mehr als 12.000 Kinder aus bewaffneten Gruppen befreit werden.  Die UNICEF  hat ein mehrstufiges Programm entwickelt, um den ehemaligen Kindersoldaten  zu helfen: Sie werden etwa in Übergangszentren untergebracht und können die Uniformen gegen  Alltagskleidung tauschen.

Ebenso stehen ihnen Ärzte, Sozialarbeiter und Therapeuten zur Seite. Helfer unterstützen die Kinder und Jugendlichen außerdem dabei, wieder die Schule zu besuchen, oder sie nehmen Kontakt zu den Familien der Opfer auf. So könnte zumindest manchen von ihnen der Weg zurück in ein geregeltes Leben gelingen. 

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