Warum uns Abstand halten so schwerfällt
Am Ufer sitzend – zu zweit, zu dritt, zu fünft, zu acht. Picknickdecken, Dosenbier, Chipssackerl. Die Liegestühle der Lokale – fast alle besetzt.
Viele Menschen hat es in den vergangenen Tagen hinausgezogen, viele Junge an den Wiener Donaukanal. Am Karlsplatz, wo man sich abends mit Freunden trifft, zeigt sich ein ähnliches Bild.
Den Boulevard veranlasste das zu deftigen Schlagzeilen. „Corona-Party“ hieß es hier, von „Festivalstimmung“ schrieb man dort. Abgesehen von Fingerzeig und Moralkeule stellen sich zwei Fragen: Kann es sein, dass das Abstandhalten zunehmend schwerer fällt? Und wenn ja, woran liegt das?
Die erste Frage ist schnell beantwortet: Ja, Abstand zu halten wird schwieriger. Die Antwort auf die zweite Frage ist längst nicht so einfach. Laut Hannah Quinz, Soziologin an der Universität Wien, spielen viele Faktoren eine Rolle, warum soziale Distanzierung nicht mehr so gut funktioniert.
Und gleich vorweg: Es sind nicht nur die Jungen. Sie sind nur sichtbarer, weil sie sich im öffentlichen Raum aufhalten.
Zunächst hat es mit dem Lockdown zu tun. Quinz hat gemeinsam mit dem Team von aucoras (einem Zusammenschluss junger SozialswissenschafterInnen, die die Auswirkungen der Coronakrise erforschen) Interviews geführt und Tagebucheinträge ausgewertet: „Dabei hat sich gezeigt, dass es Menschen irrsinnig schwergefallen ist, ihre sozialen Kontakte einzuschränken.“
Aber: Sie hielten sich strikt an die Regeln und isolierten sich. Weniger aus Angst, sich mit dem Virus anzustecken, sondern aus „solidarischer Verantwortung anderen gegenüber“, sagt Quinz.
In einer Zeit großer Unsicherheit will man nicht der- oder diejenige sein, die sich falsch verhält.
Im Verlauf der Forschung habe sich aber auch herausgestellt, dass es Menschen nicht genügt, ihre sozialen Kontakte online in Video-Konferenzen oder WhatsApp-Gruppen zu erleben. Dass dieser Zustand „nicht ewig“ eingehalten werden kann - ohne psychische Folgen - sei von Anfang an klar gewesen.
Wir und die anderen
Auch Vorbildwirkung ist ein entscheidender Faktor, das gehe aus den Daten hervor: „Wenn sich Regierungsmitglieder nicht an Maßnahmen halten, übernehmen andere dieses Verhalten“, sagt Quinz. Stichwort: Kleinwalsertal.
Vorbilder haben starken Einfluss auf das Verhalten, nicht nur politische. Auch die Peergroup, wie das im Fachjargon heißt: Wenn sich in einer Gruppe von fünf Menschen vier nicht an die Abstandsregeln halten, wird es schwierig für die fünfte Person in der Gruppe, genau das zu tun. „Man orientiert sich am Verhalten anderer“, sagt Quinz.
Wenn sich die Auslegung der Regeln nachträglich (häufig) ändert, stellt man sich mitunter die Frage nach der Sinnhaftigkeit derselben.
Dass die Polizei zuerst saftige Strafen verhängt hatte – bis zu 500 Euro für die Nicht-Einhaltung des Mindestabstands –, die wenige Wochen später jedoch aufgehoben wurden, trägt nicht unbedingt zur Klarheit bei. Auch nicht, dass das Gesundheitsministerium auf seiner Website suggerierte, dass Besuche bei Freunden oder Familie untersagt seien – was schließlich zu einer Klarstellung geführt hat.
Wenn die Regeln einmal so und dann doch wieder anders sind, woher sollen die Menschen wissen, welches Verhalten richtig ist?
Die Polizei fährt übrigens noch Streife am Donaukanal. Auch Strafen wurden verhängt. Ob der Donaukanal ein Ausreißer in der Statistik ist, vielleicht ein Hotspot, lässt sich aber nicht sagen. Die Polizei analysiert die verhängten Strafen nicht nach Örtlichkeiten.
Nach wie vor appelliert sie an die Vernunft der Menschen – und zeigt Verständnis: „Es ist schön, es ist warm, die Leute waren lange drinnen. Wir schreiten ein und klären auf“, sagt ein Sprecher.
Wenngleich: Das mit der Eigenverantwortung müssen die Menschen erst verinnerlichen. Im Lockdown konnten sie nicht zeigen, ob sie dazu fähig sind. Die strikten Regelungen haben lange funktioniert.
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