Drei Stunden bekommt Anton O. Zeit, um den Akt zu lesen. Eine Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft St. Pölten sitzt neben ihm, als er hektisch alles durchblättert. Anton O. ist nämlich auf der Suche nach Antworten. Er möchte endlich wissen, was mit seiner Mutter geschehen ist. Maria O. ist seit 1981 aus dem Mostviertel verschwunden. Seither gibt es eine einzige Spur von der Frau. Nun sitzt Anton O. vor dem Akt und erblickt ein Foto darin, das ihn kurz erstarren lässt.
Doch was ist zuvor alles geschehen? Der Mann, von dem sich Maria O. damals im Jahr 1981 gerade frisch getrennt hatte, erzählte der Familie und den Freunden, sie wäre spontan zu ihrem Bruder nach Kanada gezogen und dass sie ihn und den kleinen Sohn, Anton O., einfach alleine zurückgelassen hätte. Man glaubte ihm, da er kein Unbekannter war. Er pflegte ein großes Netzwerk – und er hatte auch einen gewissen Einfluss, selbst wenn er sich nicht im gutbetuchten, gebildeten Milieu bewegte. Und er war bekannt dafür, grob und gewalttätig zu sein. Viele nennen ihn bis heute nur den “Tyrannen”. Auch die verschwundene Maria O. soll er während der gemeinsamen Beziehung regelmäßig geschlagen haben.
Das Ende des Schweigens
Erst im Jahr 2019 wird seine Erzählung über ihren Verbleib das erste Mal in Frage gestellt. Da soll er im Streit mit einer Bekannten gesagt haben: „Ich betonier’ dich ein wie die Maria“. Innerhalb der Großfamilie rund um den Mann, die von manchen aufgrund der mafiösen Strukturen sogar als Clan bezeichnet wird, macht dies schnell die Runde. Die Frau wird ermutigt, zur Polizei zu gehen. Trotz unbeschreiblicher Angst tut sie das. Die Ermittlungen zu Maria O. und einem möglichen Mord laufen an – und bringen noch andere Geheimnisse ans Tageslicht.
So erzählen mehrere Frauen, alle Mitglieder der Familie, dass der „Tyrann“ sie jahrelang missbraucht und misshandelt hatte. Für diese Taten musste sich der Mann vor Gericht verantworten und wurde nun zu 13 Jahren Haft rechtskräftig verurteilt. Außerdem wurde er wegen gefährlicher Drohung einer weiteren Frau gegenüber zu sieben Monaten Haft verurteilt.
Drei Grabungen ohne Erfolg
Und Maria O.? Ein Großcousin des “Tyrannen” sagt, er wisse, wo sie verscharrt worden sein soll. Er erinnere sich an eine Nacht im Jahr 1981, kurz vor der Sorgerechtsverhandlung für den kleinen Anton O., zu der Maria O. überraschenderweise nicht mehr erschienen ist. Demnach hätte es in dieser Nacht einen Streit zwischen dem Verdächtigen und Maria O. gegeben, schließlich hätte dieser sie zu Tode geschlagen. Daraufhin sei er zu einem seiner Grundstücke gefahren, wo gerade eine Baugrube war, weil die Grundfesten der Gartenmauer noch betoniert werden mussten. „Das wollten wir eigentlich am nächsten Tag machen, mit einer Betonmischmaschine. Aber als ich ankam, habe ich gesehen, dass er mitten in der Nacht händisch betoniert hatte“, erzählt der Großcousin Andreas G. dem KURIER. Natürlich hätte man vermutet, dass da etwas vertuscht wurde, aber niemand hätte jemals an Maria O. gedacht. Bis zum Jahr 2019.
„Die Erzählungen von Andreas G. sind mit so vielen Details versehen, dass für mich klar ist, dort, in dieser ehemaligen Baugrube, liegt die Leiche“, sagt Christian Mader, Obmann des Vereins „Österreich findet euch“. Er betreut die Angehörigen von Maria O. seit April 2022.
Tatsächlich wurden bereits drei Grabungen auf dem besagten Grundstück durchgeführt. Sowohl Angehörige als auch Mader kritisieren hier allerdings die Vorgangsweise. Entweder sei nicht tief genug gegraben worden oder es sei an der falschen Stelle gegraben worden, heißt es. Leopold Bien, Sprecher der Staatsanwaltschaft St. Pölten, meinte dazu kurz nach dem dritten Versuch: “Hinsichtlich der Durchführung ist davon auszugehen, dass die Grabungen von den entsprechenden Experten, unter Einbeziehung von Bodenradar und anderen technischen Hilfsmitteln, korrekt durchgeführt wurden. Es ist davon auszugehen, dass die Kriminalpolizei und die externen Experten, die beigezogen wurden, verstehen, was sie tun.”
Bis jetzt schien es so, als wären die Grabungen völlig ergebnislos gewesen. Doch als Anton O. im Februar 2023 bei der Staatsanwaltschaft vor dem dicken Akt saß, stach ihm ein darin dokumentiertes Foto in die Augen. (Wie auch die Krone heute berichtet)
“Ich habe das Tuch gesehen und dachte, meine Mama schaut mich an. Es war ganz fürchterlich.” Er bezieht sich auf ein im Akt als "Stofffetzen" bezeichnetes Tuch, das einen seltsamen Abdruck zeigt. Anton O. meint, es wäre der Abdruck eines Gesichtes. Auch Christian Mader ist sicher, einen Schädel zu erkennen. “Dazu muss ich sagen, dass ich in den 1990er Jahren im Wiener Sicherheitsbüro für die Abgängigenfahndung und Identifizierung unbekannter Leichen und Katastrophenopfer verantwortlich war und ich daher mit den verschiedensten Ansichten von Toten und dergleichen betraut bin. Für mich gab es bereits beim ersten Blick keinen Zweifel, dass es sich hier um den Abdruck eines Schädels handelt”, sagt Mader.
Um seine Ansicht zu untermauern, legt er die Expertise des Facharztes Karl Pont vor. Der Zahnarzt und Implantologe erklärt in einem 10-seitigen Bericht, wie er zu dem Schluss gelangt, dass es sich bei dem “Stofffetzen” nur um ein Leichentuch handeln kann. Zur Veranschaulichung hat er einen Skelettschädel mit einem Tuch umwickelt und markante Strukturen durchgezeichnet. “Zusammenfassend ergibt die Auswertung die Wiedergabe von vier oberen Schneidezähnen mit der Abzeichnung der Ober- und Unterkieferstrukturen auf dem abgebildeten Tuch”, schreibt Pont. Außerdem zeige sich auch der Abdruck eines Ohrs mit spitzer Helix, also eine spezielle Ohrform. “Fakt ist, dass auch das Ohr der abgängigen Maria O. eine spitze Helix aufwies und dies offensichtlich auch dem Sohn Arthur weitervererbt wurde”, meint Mader. Und: “Da dieses Tuch an einer Örtlichkeit gefunden wurde, an der die Leiche der Maria O. mit höchster Wahrscheinlichkeit vermutet wird, möchte der Sohn nun endgültige Klarheit und infolgedessen eine neuerliche gerichtlich angeordnete Grabung.”
Auch die Anwältin des Sohnes, Andrea Schmidt, drängt auf eine weitere Grabung. “Aus dem nunmehr der Staatsanwaltschaft übermittelten Gutachten ist durchaus ein Zusammenhang mit der Mutter meines Mandanten herzustellen.” Die genaue behördliche Überprüfung des Fundortes des Leichentuches auf weitere Spuren ist für sie unabdingbar.
Anton O. hat, so erzählt er es, den leitenden Ermittler in dem Fall bereits mit dem Foto konfrontiert. Das Tuch soll weder Blut- noch DNA-Spuren aufweisen, sei ihm gesagt worden. “Der Beamte meinte, er sieht überhaupt nichts Bedenkliches." Angeblich soll das Tuch, nachdem es am Grabungsort fotografiert und für unwichtig befunden wurde, erneut eingegraben worden sein. Anwältin Schmidt hat nun bei der Staatsanwaltschaft angeregt, die Asservate zu inventarisieren und Einblick in diese Liste zu gewähren.
„Die Experten des Landeskriminalamtes Niederösterreich haben äußerst gründlich gearbeitet. Alle anderen Behauptungen erscheinen mir als äußerst fragwürdig“, sagt Bien von der Staatsanwaltschaft St. Pölten. Die bei den Grabungen gefundenen Gegenstände seien genau untersucht worden, weiterführende Erkenntnisse hätten sich daraus aber nicht ergeben, so Bien. „Zudem wurden die Gegenstände mit Schnelltestgeräten analysiert, die bei jeder noch so geringen Blutspur sofort einen gewissen Wert anzeigen. Auch das besagte Tuch wurde noch vor Ort einem Test unterzogen. Das Ergebnis sei aber negativ gewesen, erzählt ein Ermittler im KURIER-Gespräch.
Christian Mader betont, dass er absolut nicht den Eindruck erwecken möchte, die Qualität der Ermittlungsarbeit in Frage zu stellen. “Ich habe in dem Tuch - entgegen anderer Meinungen - einen Schädel erkannt, und suche Wege, dies zu beweisen. Es liegt mir fern, einen Angriff auf die Ermittler des LKA zu starten.” Er empfinde es als moralische Verpflichtung, der Öffentlichkeit von den Erkenntnissen zu berichten und er verfolge das Ziel einer weiteren Grabung. Immerhin hätte der Fall eine besondere Tragweite, nämlich - vielleicht - Mord.
*Der Name von Anton O. wurde auf seinen Wunsch geändert
Kommentare