Die Frau, die nicht vermisst wurde

Die Frau, die nicht vermisst wurde
Eine junge Mutter erscheint nicht zum wichtigsten Termin ihres Lebens. Vier Jahrzehnte lang werden keine Fragen gestellt. Bis das Schweigen im Jahr 2019 gebrochen wurde.

Andreas G. hat keine Zweifel. Mit hundertprozentiger Sicherheit könne er sagen, wo die Überreste von Maria O. zu finden sind. Er greift zu Papier und Stift, zeichnet den Grundriss eines Einfamilienhauses nach, dann skizziert er den umliegenden Garten. Schließlich markiert er eine Stelle mit einem Kreuzchen, dessen Linien er immer wieder nachzieht. Doch wer ist Maria O.?

Um ihre Geschichte zu erzählen, muss man viele Jahre zurückreisen, nämlich ins Jahr 1979. Ein kleiner niederösterreichischer Ort im Bezirk Amstetten ist das Zuhause der schüchternen und einsamen jungen Frau. Ihre Eltern leben nicht mehr, zu ihren beiden älteren Geschwistern pflegt sie kaum Kontakt. Beide leben mittlerweile im Ausland, die Schwester in Deutschland und der Bruder in Kanada.

Auch Freundschaften gibt es in ihrem Leben nicht viele. Und dann trifft sie diesen beeindruckenden Mann, der genau das Gegenteil von ihr ist. Er hat eine Großfamilie, fungiert als dessen Oberhaupt. Er ist selbstbewusst, mutig und kennt jeden und jede in den umliegenden Ortschaften beim Vornamen. Die beiden werden ein Paar, doch schon bald wird der Mann gewalttätig, physisch sowie psychisch.

Die Frau, die nicht vermisst wurde

Andreas G. meint zu wissen, was passiert ist

Grausame Geschichten

Er schlägt sie regelmäßig, zeigt sich immer brutaler. Maria O. wird schwanger, sie hofft, dass er sich ändert. Sanfter wird. Das Gegenteil ist der Fall. „Er soll sie sogar noch in den Wehen geschlagen haben, dazu gibt es die Aussage einer Hebamme“, sagt die Journalistin Ilse Probst, die als freie Gerichtsreporterin seit vielen Jahren in Niederösterreich tätig ist. Die grausamen Geschichten, die von unterschiedlichen Menschen über Maria O. und ihre Beziehung zu diesem Mann erzählt werden, gleichen einander. Für viele ist er bloß „der Tyrann“. Und doch sind es Erzählungen aus einer weit entfernten Vergangenheit, die nicht mehr verifiziert werden können.

Was Ermittler und Staatsanwaltschaft jedenfalls bestätigt haben: Maria O. tauchte nicht zur Sorgerechtsverhandlung ihres Babys auf. Obwohl sie kurz davor alles versucht hatte, um ihr Leben wieder in Ordnung zu bringen. Sie trennte sich von dem brutalen Mann, fand eine Unterkunft und auch einen Job. Sie kaufte sich ein Kleid, das sie zu diesem wichtigen Termin tragen wollte. Doch sie erschien nicht. Sie sei zu ihrem Bruder nach Kanada ausgewandert, so die Version, die ihr Ex-Partner erzählt. Alle glauben sie. Fast vier jahrzehntelang zweifelt niemand diese Version an, Maria O. wird auch nicht vermisst gemeldet.

Im Jahr 2019 tätigt eine Frau eine Aussage, die aufhorchen lässt. Sie erzählt, dass sie einen heftigen Streit mit dem „Tyrannen“ hatte, der völlig eskaliert sein soll. „Ich betonier’ dich ein wie die Maria“, soll er zu ihr gesagt haben. Innerhalb der Familie macht das schnell die Runde, die Frau wird ermutigt, zur Polizei zu gehen. Trotz unbeschreiblicher Angst tut sie das.

Die Ermittlungen zu Maria O. und einem möglichen Mord laufen an. Die Großfamilie, die von vielen als Clan bezeichnet wird, weil ihre Verzweigungen und Rollenverteilungen an mafiöse Strukturen erinnern, beginnt, das Schweigen zu brechen. Omertà, auch das erinnert an die Mafia. Im Zuge der Ermittlungen wegen Maria O. kommen nämlich noch andere Geheimnisse ans Tageslicht.

So erzählen mehrere Frauen, alle Mitglieder der Familie, dass der „Tyrann“ sie jahrelang missbraucht und misshandelt hatte. Bei einer seiner Nichten hätten die sexuellen Übergriffe begonnen, als sie erst fünf Jahre alt war. Für diese Taten musste sich der Mann vor Gericht verantworten und wurde schließlich im Mai 2022 zu 13 Jahren Haft rechtskräftig verurteilt.

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Vermisst seit über 40 Jahren. Maria O. aus dem Mostviertel. 

Tiefe Abgründe

Journalistin Ilse Probst war bei der Verhandlung anwesend. „Ich bin seit 22 Jahren als Gerichtsreporterin tätig, habe rund 4.000 Prozesse beobachtet und mir nicht vorstellen können, dass mir jemals noch ein Fall unterkommt, der mich weit über das normale Entsetzen hinaus berührt“, sagt sie und schüttelt den Kopf.

Bei dem Prozess hätten sich Abgründe aufgetan, die man kaum fassen kann. Selten bis gar nicht käme es zu Vorwürfen dieses Ausmaßes, sodass ein achtjähriges Mädchen verzweifelt sogar in einen Suizid flüchten wollte, meinte auch die vorsitzende Richterin Doris Wais-Pfeffer. Und Opfervertreterin Elisabeth Januschkowetz erinnerte an folgende Zeugenaussage: „Er ist der brutalste Mensch, den ich kenne. Es gibt niemanden, der brutaler ist.“

Und Maria O.? Andreas G. kritzelt weiter auf dem Notizzettel herum. Wieder und wieder zieht er die Linien des Kreuzchens nach. „Da liegt die Maria O.“, sagt er bestimmt. Auf die Frage, warum er so sicher ist, hat der 54-jährige Großcousin des „Tyrannen“ viele ausführliche Antworten. In einer davon beschreibt er eine Nacht im Jahr 1981, kurz vor besagter Sorgerechtsverhandlung. Demnach hätte es einen Streit zwischen dem Verdächtigen und Maria O. gegeben, schließlich hätte dieser sie zu Tode geschlagen.

Die Leiche wollte er angeblich in einem Waldstück verscharren, konnte aber keine ausreichend tiefen Löcher graben. Daraufhin sei er zu einem anderen Grundstück gefahren, wo gerade eine Baugrube war, weil die Grundfesten der Gartenmauer noch betoniert werden mussten. „Das wollten wir eigentlich am nächsten Tag machen, mit einer Betonmischmaschine. Aber als ich ankam, habe ich gesehen, dass er bereits mitten in der Nacht händisch betoniert hatte“, erzählt Andreas G. Natürlich hätte man vermutet, dass da etwas vertuscht wurde, aber niemand hätte jemals an Maria O. gedacht. Bis zum Jahr 2019.

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Das besagte Waldstück in Niederösterreich

Grabungen

„Die Erzählungen von Andreas G. sind mit so vielen Details versehen, dass für mich klar ist, dort liegt ihre Leiche. Es ist alles extrem plausibel. Wie ein Mosaik, das zusammengefügt wird“, sagt Christian Mader, Obmann des Vereins „Österreich findet euch“ und ehemaliger Leiter der Abgängigenfahndung Wien. Das Ziel sei eine Grabung an jener Stelle, an der Andreas G. das Kreuzchen gemacht hat. Bereits zweimal ordnete die Staatsanwaltschaft Grabungen an, doch man fand nichts. „Es wurde nicht tief genug gegraben“, sagt Mader.

Der „Tyrann“ ist derzeit noch auf freiem Fuß, da seine Verteidigerin einen Antrag auf Haftunfähigkeit eingebracht hat.

Podcast zu dem Fall anhören: 

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