Tschetschenen in Österreich: Die missglückte Integration
Ein Streit eskaliert, mehrere Schüsse fallen, einer davon verletzt einen 37-jährigen Tschetschenen schwer am rechten Knie. Der Täter, vermutlich ebenfalls ein Tschetschene, ist auf der Flucht. Es sind Verbrechen wie diese, die Menschen tschetschenischer Herkunft in Misskredit bringen: Sie werden als gewaltbereit, nationalistisch und frauenfeindlich angesehen. Nur eine Minderheit gilt als integriert.
Der oben beschriebene Vorfall ereignete sich Samstagnachmittag in Wien-Meidling. Die Hintergründe sind noch unklar: "Definitiv wissen wir, dass drei Mal geschossen wurde", sagt ein Polizeisprecher. Der 37-Jährige, der derzeit im Krankenhaus liegt, konnte zwar schon befragt werden, beschränke sich aber auf "wenig aufschlussreiche Angaben" über Angreifer und Motiv. Allerdings gaben die Kinder des Verletzten in einer ersten Befragung an, dass der Täter und ihr Vater tschetschenisch gesprochen hätten und einander offenbar kennen.
> > Kommentar: Bei den Tschetschenen hat die Integrationspolitik versagt
Inoffiziell hört man, dass die Familie – sechs Kinder, die schwangere 32-jährige Ehefrau und der 37-jährige Vater – strenggläubige Muslime seien. Offiziell heißt es vonseiten der Polizei, es könnte ein politisches oder religiöses Motiv für die Tat geben, aber auch eine Familienfehde oder ein Streit um Geld seien nicht auszuschließen.
Immer wieder sorgen Berichte über Gewalttaten von Tschetschenen für Beunruhigung. Im März etwa waren tschetschenische Jugendliche in eine Massenschlägerei mit Afghanen am Wiener Handelskai verwickelt.
"Sittenwächter"
Für Aufsehen sorgte auch eine Auseinandersetzung Ende Februar in der Wiener Millennium City, im Zuge derer selbst ernannte tschetschenische "Sittenwächter" einen 41-jährigen Familienvater verprügelt haben sollen.
"Wenn sie junge Tschetschenen sehen, wechseln Wiener die Straßenseite", sagt daher auch ein führender Polizist Wiens. Doch was sagt die Statistik? Wie viele Tschetschenen in Österreich tatsächlich Straftaten begehen, lässt sich mithilfe der Kriminalitätsstatistik des Innenministeriums nicht exakt klären. Denn dort werden Tschetschenen als Bürger der Russischen Föderation ausgewiesen.
Nur ein Parameter gibt einen Hinweis: Im Jahr 2015 gab es 3008 Anzeigen gegen Personen aus der Russischen Föderation. 1226 dieser Anzeigen richteten sich gegen Asylwerber. Bei russischen Asylwerbern wiederum handelt es sich fast ausschließlich um Tschetschenen.
Ein Problemfeld ist die organisierte Kriminalität: Laut dem Sicherheitsbericht 2015 sind in Österreich neben Tätergruppen vom Balkan oder aus der Türkei auch Gruppen aus Georgien, Moldau und der Russischen Föderation – und hier insbesondere aus Tschetschenien – aktiv. Die Täter begehen etwa Einbrüche, gewerbsmäßigen Diebstahl, Schutzgelderpressungen und Suchtmittelhandel. Tschetschenische Gruppen werden laut dem Bericht in diesem Bereich zudem auch in Zukunft die größte Herausforderung für die Strafverfolgungsbehörden darstellen, da sich ihre kriminellen Strukturen in Österreich immer stärker verfestigen.
Die andere Seite
Und doch gibt es auch jene, die gut integriert hier leben und unter den Vorurteilen gegenüber Tschetschenen leiden., etwa Mansur und Tansila V.: Die beiden sitzen im Kaffeehaus in der Wiener Innenstadt. Der 23-jährige Mansur hat bei Ute Bock gearbeitet und studiert jetzt Jus. Seine 19-jährige Schwester Tansila, ist zwar praktizierende Muslimin, trägt aber kein Kopftuch. Sie war Klassenbeste und will Notärztin werden, gerade hat sie mit dem Medizinstudium begonnen.
Tschetschene zu sein, das bedeutet, täglich mit Vorurteilen konfrontiert zu werden, sagt Mansur. "Ich war mit Freunden zu Fuß auf der Quellenstraße unterwegs. Ein Zivilwagen der Polizei hat angehalten, ein Beamter hat uns gefragt: ‚Na Burschen, was hamma heute gemacht? Einen Ladendiebstahl?‘"
Auch mit ihrer Klasse einfach nach London zu fahren, war für Tansila eine Herausforderung. Sie musste als Teenager zu Botschaft und Fremdenpolizei pilgern um eine Einreiseerlaubnis zu bekommen. "Da musst du schon sehr jung selbstständig werden. Und wenn andere 100 Prozent geben, musst du 200 Prozent geben. "
Von Tschetschenien hat Tansila nicht viel in Erinnerung. "Außer Krieg." Heute ist ihre Heimat in Wien. Ihre Freunde kommen aus Österreich, Afghanistan, sogar Russen sind darunter. "In Wahrheit sind wir stinknormal", sagt sie.
"Es dürfte sich um eine Beziehungstat gehandelt haben. Die Einvernahme gestaltet sich aber schwierig", hieß es am Sonntag zu einem blutigen Zwischenfall unter Tschetschenen. Wie berichtet, soll am Samstag ein Mann in einem Stiegenhaus in Meidling einen sechsfachen Familienvater nach einer Auseinandersetzung mit zumindest drei Schüssen niedergestreckt haben. Das Opfer wurde schwer verletzt. Bei der Einvernahme wollte er zunächst keine Angaben zu den Hintergründen machen.
Grätzelpolizisten
Um die Lage zu verbessern, hat die Polizei zuletzt Grätzelpolizisten installiert. Ziel ist, in Gegenden, in denen sich Wiener nicht mehr sicher fühlen, einzugreifen. Mahrer: "Wenn wir Meldungen erhalten, dass sich die Leute ab 17 Uhr nicht mehr in bestimmte Parks trauen, weil den eine große Gruppe junger Männer besetzt hat, gehen wir dort natürlich hinein. So etwas darf es nicht geben."
Die nächste Initiative startet Polizeipräsident Gerhard Pürstl. Am 12. Dezember hat er die Jugendvertreter von Tschetschenen, Afghanen, Nigerianern und weiterer Problemgruppen ins Polizeipräsidium geladen. "Bei dem ,Round Table‘ wollen wir Berührungsängste abbauen und sagen, dass es bei Problemen auch Ansprechpartner gibt." Trotzdem sieht Mahrer die Politik gefordert. Menschen, die "gewaltkonditioniert aufgewachsen sind, die unsere Werte nicht kennen, da braucht es viel massivere Integrationsinitiativen. Wenn das nicht funktioniert, muss es zu einer konsequenteren Rückführungspolitik kommen."
Die tschetschenische Gemeinde in Österreich hat mit ihrem Ruf zu kämpfen. Spätestens, seit auf Facebook ein Video auftauchte, in dem eine 15-Jährige von mehreren anderen Jugendlichen verprügelt wird – darunter mindestens ein junger Tschetschene. Davor machte eine Massenschlägerei zwischen Tschetschenen und Afghanen Schlagzeilen. Von den 260 Personen in Österreich, die unter Dschihadismus-Verdacht stehen, haben laut Verfassungsschutz rund die Hälfte tschetschenischen Hintergrund. Die Liste lässt sich fortführen. Sind Tschetschenen also schwerer zu integrieren als andere Gruppen?
Seit mehr als 200 Jahren stehen die Tschetschenen im Konflikt mit dem übermächtigen Nachbarn Russland. Höhepunkt war der Genozid unter Stalin im Jahr 1944, als mehr oder weniger das gesamte tschetschenische Volk, rund 400.000 Menschen, in Viehwaggons nach Kasachstan deportiert wurden. Wie viele Menschen genau ums Lebens kamen, ist nicht mehr genau zu rekonstruieren. Die Schätzungen gehen bis zu 25 Prozent.
Erst unter Chruschtschow, zwölf Jahre später, durften die Tschetschenen in die Heimat zurückkehren – darunter die Großeltern der heutigen Jugend. Sie fanden ihre Dörfer verlassen oder von russischen Siedlern bewohnt vor.
Dass die Tschetschenen eine der höchsten Geburtenraten in der Sowjetunion hatten, sei wiederum darauf zurückzuführen, dass die Tschetschenen zahlenmäßig "aufholen" mussten.
Die Tschetschenien-Kriege der Neunziger und ihre Folgen führten schließlich zur Fluchtbewegung nach Europa. Österreich beherbergt mit rund 30.000 Personen eine der größten tschetschenischen Gemeinschaften in Europa.
Die tschetschenische Community ist aber alles andere als der eng vernetzte, einheitliche Block, als die sie gerne dargestellt wird. Politisch ist sie in mehrere Strömungen aufgesplittert. Neben den alten nationalistischen Strömungen gibt es die Anhänger des aktuellen Moskau-treuen Machthabers Ramsan Kadyrow sowie des national-dschihadistischen Kaukasus-Emirats.
Thomas Schmidinger gibt aber zu bedenken, dass über die hiesige tschetschenische Gemeinde relativ wenig bekannt ist. "Es gibt in Österreich einige wenige Privatinitiativen, die sich mit Tschetschenen auseinandersetzen, aber kaum Community-Work", sagt er. "Das Problem ist auch, dass es keinerlei organisierte Sammlung von Wissen und Weitergabe von Wissen über die Community gibt. Deshalb ist es schwierig, gezielte Maßnahmen zu setzen, die die Situation verbessern könnten."
(Moritz Gottsauner-Wolf)
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