Stehlen, schlagen, ruinieren: Kinderkriminalität steigt
Die Kriminalität in der jüngsten Altersgruppe steigt - um immerhin 16,6 Prozent in den vergangenen fünf Jahren. Das ergibt eine aktuelle Analyse des Bundeskriminalamts. Die stärksten Zunahmen sind demnach in Salzburg, Kärnten, Tirol und Vorarlberg zu verzeichnen. In Summe gibt es aber in Wien die meisten Straftaten von Kindern.
Betroffen von den Steigerungen sind laut Bundeskriminalamt vor allem drei Delikte - Diebstahl, Sachbeschädigung und Körperverletzung, also vor allem Aggressionsdelikte. Drogen spielen in dieser Altersgruppe jedenfalls (noch) kaum eine Rolle, so die Analyse der Polizei. Während die Jugendkriminalität insgesamt sinkt, steigt sie bei den Kindern an. Auf niedrigem Niveau betrifft das auch sexuelle Übergriffe.
Versorgungskrise
Die Ursachen dafür sind laut Österreichs führenden Experten vielschichtig. Kriminalsoziologin Veronika Hofinger von der Uni Innsbruck sieht etwa eine mögliche Folge der Coronapandemie: „Wir wissen, dass sich dadurch die psychischen Probleme bei Kindern und Jugendlichen stark erhöht haben – dem wird zu wenig gegengesteuert, Stichwort Versorgungskrise in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.“
Katharina Beclin, Expertin für Strafrecht und Kriminologie an der Uni Wien meint dazu: „Die Pandemie hat für viele Kinder zu erhöhtem Stress geführt, etwa durch Konflikte zu Hause, die zugenommen haben dürften, denen sie nicht ausweichen konnten. Dazu kommen Schulprobleme wegen des Homelearnings oder Schwierigkeiten der Lehrstellensuche. Depressionen können auch in aggressivem Verhalten zum Ausdruck kommen. Gemeinsames Herumlungern und Trinken kann zusammen mit Frust und Perspektivlosigkeit ebenfalls zu vermehrten gewalttätigen Auseinandersetzungen führen“, meint die Expertin.
Krisen als Verstärker
Hannes Kolar, Leiter des Psychologischen Dienstes der Wiener MA11, sieht die Ursachen auch krisenbedingt: „Zum einen merken wir durch die Energiekrise, dass viele Familien mit Geldproblemen kämpfen. Das löst bei den Eltern Stress aus“, sagt der Jugendpsychologe. „Die Kinder waren dann – verstärkt durch die Coronapandemie – in den vergangenen zwei Jahren teilweise auf sich allein gestellt. Dazu kommt eine übersteigerte Risikobereitschaft, man will sich in der Freundesgruppe beweisen. Durch all diese Faktoren steigt die Gefahr, kriminell zu werden.“
Kolar sieht noch eine Ursache: „Auch das Handy spielt eine Rolle. Dadurch kommen Kinder leichter in Kontakt mit fragwürdigen Inhalten und teilen diese oft, ohne über die Konsequenzen nachzudenken oder nehmen sich ein Vorbild an anderen im Netz.“
Neue Zählweise
Doch bisher in der Diskussion untergegangen ist, dass es 2019 eine Umstellung der Zählweise gab, wie Norbert Leonhardmair vom Vicesse-Institut anmerkt: „Das sind keine neuen Delikte, sondern eine neue Zählweise. Dieser Anstieg passierte tatsächlich zwischen 2018/2019 mit der Einführung der neuen Zählweise.“ Er sieht sogar, dass die Zahlen mittlerweile bereits wieder zurück gehen.
Ähnliches gab es auch in den Neunzigerjahren in Deutschland - da explodierte einige Jahre die Kinder- und Jugendkriminalität. Genauso schnell war die Steigerung aber wieder vorbei. Wissenschaftliche Untersuchungen fanden zwar keinen triftigen Grund, bestätigten aber, dass Kriminalität viel mit Familieneinkommen und Bildung, aber wenig mit der Herkunft zu tun hat. Da die Dunkelziffer hoch ist, sei die Anzeigebereitschaft ein wichtiger Faktor.
Das betont auch Hofinger: „Anzeigen sind selektiv, nur ein Bruchteil der potentiell anzeigbaren Straftaten wird angezeigt. Ob bei einer Rauferei die Polizei gerufen wird, hängt von einer Vielzahl von Einschätzungen der Beteiligten ab.“
Harte Fakten liefert die Uniklinik Innsbruck - dort wurden heuer 100 Kinder als Gewaltopfer behandelt. Das sind doppelt so viele wie im langjährigen Schnitt.
Wenn Kinder übergriffig werden
Der Psychologe Hannes Kolar (MA11) über sexuelle Übergriffe unter Kindern.
KURIER: Herr Kolar, wie interpretieren Sie die Entwicklung der Kinder- und Jugendkriminalität in den vergangenen Jahren?
Kolar: Der Rückgang der Anzeigen bei jugendlichen Straftätern wird sicher durch die stetig wachsende Zahl von sozialtherapeutischen Angeboten unterstützt. Umso beunruhigender ist die Zunahme von Delikten bei den unter 13-Jährigen. Das betrifft sowohl den Bereich physischer, als auch jenen sexueller Gewalt.
Von wie vielen Kindern sprechen wir im Fall von sexueller Gewalt?
Pro Jahr sind das insgesamt etwa zehn bis 15 Kinder in Wien. Diese Zahl ist statistisch gesehen zwar vernachlässigbar, aber wir müssen dennoch möglichst früh darauf reagieren, um den Lebensverlauf der Kinder noch positiv beeinflussen zu können.
Gibt es im Bereich sexuelle Gewalt bereits Angebote für Betroffene?
Ja, aber eben für Jugendliche über 14 Jahre. Für gewalttätige Kinder haben wir mit dem Verein „Multikulturelles Netzwerk“ ein Anti-Gewalt-Training mit Elementen der konfrontativen Deliktbearbeitung und gleichzeitiger Ressourcenstärkung begonnen. Für Kinder, die sexuelle Gewalt ausüben, wird derzeit an einem analogen Spezialangebot gearbeitet, denn sie haben in ihrer Biografie fast immer Opfererfahrungen gemacht. Ziel ist die Erarbeitung eines Unrechtsbewusstseins und der Handlungskontrolle.