Starker Corona-Anstieg: Wer hat uns das eingebrockt?
Für all jene, die vorhatten demnächst zu heiraten, dürften die neuesten Regelungen besonders schmerzhaft sein. Ab Montag sind private Feiern im Innenbereich – außer in Privatwohnungen – auf zehn Personen beschränkt.
Die Regierung begründet die strengen Konsequenzen mit rasch steigenden Infektionszahlen und den zahlreichen Clusterbildungen. Deutschland, Belgien, Dänemark und die Schweiz haben mittlerweile Reisewarnungen für Wien ausgesprochen.
Aber wie konnte es so weit kommen?
„Die Abstands- und Hygieneregeln reduzieren das Risiko, eliminieren es aber nicht“, erklärt Christoph Steininger, Virologe an der MedUni Wien. Außerdem kennt die Epidemiologie das Phänomen der Perkolation. „Eine Infektion kursiert lange auf niedrigem Niveau, bis ein gewisser Schwellenwert erreicht ist und es zu einer neuen Infektionswelle kommt“, erläutert Dorothee von Laer, Virologin an der Uni Innsbruck.
Genau so ein Schwellenwert könnte jüngst erreicht worden sein. Hinzu kamen die Lockerungen bei Reisen und Veranstaltungen. Aber auch das diffuse Pandemie-Management trug dazu bei. Das Chaos um die Corona-Ampel ist hier nur der Gipfel der verpassten Chancen.
Um dem Virus auf der Spur zu bleiben, identifiziert die AGES im Auftrag des Gesundheitsministeriums regelmäßig die Quellen der Infektionen sowie Übertragungsketten.
Der KURIER hat die aktuellsten Analysen der zweiten Septemberwoche. Ein Blick darauf zeigt, dass sich eines seit März nicht geändert hat: Die größte Gefahr, sich anzustecken, liegt immer noch ganz nah. Denn die meisten Übertragungen finden in der Familie statt.
Haushalt
Das unmittelbare Umfeld bildet mit 74,1 Prozent die Spitze bei den Clusterbildungen. „Nur weil jemand zur Familie gehört, ist er nicht weniger ansteckend“, sagt Virologin von Laer. Meist seien dies nur kleine Cluster, das erklärt auch die hohe Anzahl.
Auslandsreisen
Die Cluster durch Rückkehrer aus Urlaubsdestinationen liegen mit 6,3 Prozent auf Platz zwei. Allerdings sinken sie seit Schulbeginn und werden im Herbst weiter rückläufig sein. Steininger zufolge sei hier aber weniger das Reisen an sich, als das Verhalten vor Ort ausschlaggebend gewesen. Immerhin hatten die Nachtlokale an der kroatischen Adria geöffnet.
Arbeitsplatz
Fast gleichauf liegt die Gefahr am Arbeitsplatz. Auffällig waren zuletzt gehäufte Ansteckungen bei einem Paketdienstleister in Oberösterreich. Anfang der Woche sprach man von rund 40 Mitarbeitern und acht Kontaktpersonen, die erkrankt seien. Ebenso stieg die Zahl in der Radetzky-Kaserne in Horn. Von insgesamt 204 getesteten Personen stellten sich 15 als Corona-positiv heraus. Im Sommer waren immer wieder Schlachthöfe und Fleischereien in den Fokus geraten.
Hotellerie und Gastronomie
Übernachtungen, Restaurantbesuche, Feiern im Nachtclub: Das wohl bekannteste Beispiel für diese Kategorie ist der Ischgl-Cluster, der über lange Zeit gestreut hat. Einen kleineren Cluster gab es kürzlich in einem Hotel auf der Turracher Höhe. Fünf Mitarbeiter wurden positiv getestet, sie dürften sich bei einem Gast infiziert haben. Derzeit machen diese Cluster 4,9 Prozent aus.
Freizeit
Hochzeiten, Begräbnisse, Geburtstagsfeiern, kulturelle Veranstaltung oder Gottesdienste, wie etwa bei den viel diskutierten Freikirchen – sie alle fallen in die Cluster-Kategorie „Freizeit“. Aufgrund der Lockerungen im Sommer seien die Menschen nachlässiger geworden. „Zudem gab es einen gewissen Nachholbedarf an Feierlichkeiten“, meint Virologin von Laer. In Niederösterreich etwa waren 37 Infektionen nach einem Dämmerschoppen und einer Hochzeit im Bezirk Zwettl gemeldet worden.
Senioren- und Pflegeheime, Spitäler
Sie rangieren aktuell weit unten im Cluster-Vergleich. Vergangene Woche wurden allerdings in einem Altersheim in Graz zwei Pflegerinnen positiv getestet. Inzwischen sind dort laut Caritas 44 bestätigte Fälle bekannt.
Bildung
Hier fasst die AGES seit neuestem Schulen, Kindergärten, Universitäten und Nachhilfe-Institute zusammen. Der Cluster kommt auf nur 0,9 Prozent. Laut AGES sind Kinder keine Treiber der Pandemie. Die aktuellen Infektionen dort seien ursprünglich nicht an Schulen, sondern außerhalb passiert und hier nicht hinzugerechnet. Virologe Steininger: „Es wäre aber überraschend, wenn die Schulen keinen Einfluss auf die Verbreitung hätten.“ Erwähnenswert in diesem Cluster ist eine Vorstellung der MUK-Privatuni in Wien, es konnten mittlerweile 46 Infektionen zugeordnet werden.
Was laut Steininger ein Problem ist: „Das Contact-Tracing funktioniert teilweise sehr langsam.“ Ein Bekannter habe am 16. September erfahren, dass er am 8. September Kontakt mit einem Infizierten gehabt habe und noch zwei Tage in Quarantäne müsse. „Das ist witzlos.“ Probleme gibt es auch mit langen Wartezeiten bei der 1450-Hotline sowie den Testabnahmen. Die Stadt Wien will ihr Personal hier um 500 Personen aufstocken. Warum das erst jetzt geschieht, ist äußerst verwunderlich.
Trotz allem ist laut Steininger die Situation nicht mit der im März vergleichbar. Man habe mehr Testkapazitäten und ein umfangreicheres Wissen über das Virus. Und: Die Spitäler seien besser vorbereitet. „Auch wenn die täglichen Neuinfektionen auf über 1.000 steigen, bin ich nicht alarmiert.“ Zudem würde deutlich mehr getestet, was auch zu mehr positiv Getesteten führe. Wurden kurz vor Beginn des Lockdowns am 15. März etwa 700 Testungen durchgeführt, waren es am Samstag bereits rund 18.000. Er ist sicher: „Man kann die Situation auch ohne Lockdown stabilisieren.“
Das bestätigt auch Virologin von Laer: Die Dunkelziffer sei viel kleiner und die Mortalität geringer, da die Infizierten jünger seien. Eigentlich sei es einfach. „Mund-Nasen-Schutz tragen, Abstand halten. Das ist im Vergleich zu insolventen Betrieben und dem Untergang der Bildung und Kultur doch harmlos.“
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